Menschliche Zeichnung

Ute Hallaschka

Es ist die erste Retrospektive des Tiermalers überhaupt; gezeigt werden rund 120 Gemälde, Studien und Druckgrafiken. Zur selben Zeit wird weltweit eine Sensation gefeiert: Erstmalig hat eine Künstliche Intelligenz ein Bild verfertigt, das als Kunstwerk gilt. Dazu wurde die Maschine mit rund 15.000 klassischen Porträts gefüttert – natürlich von Menschen – und aus den Kopien hat der Algorithmus nun ein Original kreiert.

Was sich außerdem zeitgleich in der Realität ereignet, ist das Artensterben. In Zahlen ausgedrückt, würde die Natur, laut einer wissenschaftliche Studie rund 3 Millionen Jahre benötigen, um dieselbe Arten Vielfalt zu reinstallieren, die es einmal in der Schöpfung gegeben hat. Vor diesem Hintergrund ist die Ausstellung ein echter Lichtblick.

Wie sehen Kinder die Welt im Original – besonders das Tierreich, in dem unsere Mitgeschöpfe leben? Eigentlich gar nicht mehr, sie sind von früh an mit Reproduktion und Animation konfrontiert. Was einmal in Märchen und Erzählung Urbild der Tiere war, von den Brüdern Grimm bis zum Kleinen Prinzen, diesen Imaginationen entsprach ein Wesen in der natürlichen Welt. So ließen sich die Bilder vertrauensvoll auf die Wirklichkeit beziehen. Doch das Verhältnis zwischen Original und Kopie hat sich schon länger umgekehrt. Ich erinnere mich an einen Zoobesuch mit der kleinen Eva, als sie zum ersten Mal eine Giraffe sah und rief: Die kenne ich schon aus dem Fernsehen! Heute ist »fernsehen« keine extra Veranstaltung mehr, die Bildschirmgiraffen sind jederzeit allgegenwärtig.

In der Ausstellung begegnen wir riesigen Gemälden, die vor allem den Löwen als König der Tiere zeigen. Kuhnert liebte diese Tiere, was ihn jedoch nicht hinderte, an der Jagd teilzunehmen. Doch aus seinem Verständnis des Jägers als Heger und Pfleger der Natur übt er in einigen Bildern ausdrücklich Kritik an der puren Tötungslust der Großwildjägerei. Ein Selbstporträt, Die Strecke, zeigt ihn vor erlegten Tieren. Davor steht ein fünfjähriges Mädchen mit seiner Mutter. Nun erwarte ich die Anklage und die Frage: Warum? Aber das Kind sieht etwas ganz anderes. Warum die tote Gazelle offene Augen hat?, will es von seiner Mutter wissen. Daraus entspringt ein wundervoll einfühlsamer Dialog über Tod und Leben.

Das andere, für erwachsene Besucher problematische Thema ist die Entstehung der Bilder im Kontext der Kolonialzeit. Auch hierzu finden sich bei näherer Betrachtung kritische Zeichnungen, in denen der Maler den Umgang der Kolonialherren mit der Zivilbevölkerung anprangert. Zudem kann man ins Grübeln kommen, was die Weltbilder von damals und heute betrifft. Unsere Wirtschaftsweise ist ja nach wie vor imperialistisch organisiert.

Wer mit offenen Augen durch die Ausstellung geht, sieht die Majestät der Schöpfung. Die Tiere erscheinen eingebettet in die umgebende Landschaft und dazu immer in einem ganz bestimmten Augenblick erfasst. Oft entsteht eine geradezu synergetische Wirkung. Verhoffendes Zebra, man sieht nicht nur, wie das Tier wittert, man spürt es so deutlich, dass man beinah selbst zu schnuppern anfängt. Oder die Frische, die das Gemälde Giraffen unter Akazienbäumen nach der Regenzeit ausstrahlt. – Was die Darstellung der Raubtiere auszeichnet, ist die Meisterschaft der gemalten Anatomie, die Spannung des Muskelspiels von den Ohren bis zur Schwanzspitze. Wer die Löwen Auf dem Raubzug sieht, kann sich im Blick förmlich einfühlen in den Körper der Kreatur. Auch das mächtige Wisent daneben ist nicht weniger ein Urbild des Majestätischen. Kuhnert lässt die Tiere wie im Seelenporträt erscheinen. Der alte Nachzügler, die Gruppe ist weitergezogen zum Horizont, im Vordergrund blickt der alte Löwe den Betrachter an. Man sieht den Verlust der natürlichen Lebenskraft als Wehmut im Tier. Elefanten auf der Flucht vor einem Steppenbrand ist dagegen ein gemaltes Drama.

Was den Flächenbrand unserer Zeit angeht, ist dieser Ausflug ins innere Afrika sehr zu empfehlen. Man kann die eigene Seele besichtigen in aller Naivität. Mit dem kindlich offenen Blick, in dem Sehen und Verstehen eins sind.

»König der Tiere. Wilhelm Kunert und das Bild von Afrika«, 25. Oktober 2018 bis 27. Januar 2019, Frankfurter Schirn Kunsthalle