Lieber Herr Köhler,
auch ich wundere mich regelmäßig über journalistische Beiträge, bei denen Menschen mit Down-Syndrom mit den Leistungen ihrer offensichtlichen »Normalintelligenz« als sonderpädagogische Erfolge präsentiert werden. Als ausgebildete Sonderpädagogin weiß ich aber, dass es unterschiedliche Ursachen des Down-Syndroms gibt. Zwei davon sind in ihrem Vorkommen äußerst selten, können aber in ihrer Erscheinung sehr eindrücklich sein, da bei ihnen zwar die Stigmata des klassischen Down-Syndroms bestehen, aber keinerlei oder nur eine gering ausgeprägte Intelligenzminderung vorliegen kann (Mosaik- oder partielle Trisonomie 21).
Diesen Kindern Hochschulzugänge zu ermöglichen, hat mit Sonderpädagogik oder Inklusion nichts zu tun. Schon zu meinen Studienzeiten in den 1990ern, als über Autismus und Gestützte Kommunikation in sämtlichen, auch seriösen Medien, Einzelfälle zu Allgemeinplätzen skandiert wurden, reduzierten wir Studenten dies auf sogenannte »Bildzeitungspädagogik – große Schlagzeile – wenig Text«.
Solche Beiträge sind komplett unbedeutend für seriös forschende und arbeitende Inklusionspädagogen. Dem gilt es meines Erachtens, glaubwürdige, weil akademisch und praktisch transparente Erfahrungen entgegenzustellen. Denn Bange machen gilt nicht!
Ihre Argumentation hatte vielleicht vor mehr als zehn Jahren, wenn auch dort nur bedingt, Gewicht, als von »zielgleicher Integration« gesprochen wurde. Gemeint war zumeist die Eingliederung von Menschen mit Körperbehinderungen in Bildungsgängen für Regelschüler. Dabei wurde davon ausgegangen, dass auch Kinder zum Beispiel im Rollstuhl mit Kindern ohne Körperbehinderung gleiche Schulabgänge in den gleichen Schulformen erreichen können.
Nun sind wir aber einen Schritt weiter, was sich in anspruchsvollen Publikationen durchaus widerspiegelt. So wird heutzutage ausnahmslos von zieldifferenter Inklusion gesprochen, das heißt, der Erfolg einer inklusiven Beschulung wird an den individuellen Entwicklungsschritten eines jeden Kindes gemessen. In diesem Sinne werden dann auch didaktisch-methodische Zielsetzungen individuell angepasst. Als besonders bedeutend ist im Gegensatz zu Ihren Vorwürfen, dass dabei nicht mehr nur die intellektuelle Entwicklung im Mittelpunkt steht, sondern auch Momente der sozial-emotionalen Entwicklung aller Mitschüler mit und ohne Behinderung Beachtung finden.
Wie Sie wissen, können gerade hier zum Beispiel Kinder mit geistiger Behinderung Kindern ohne Behinderung weit voraus sein. Von Gleichmacherei kann hier also in keinster Weise geredet werden. Im Gegenteil, es entwickelt sich hier behutsam eine Lernkultur, die sich in gegenseitiger Bereicherung und Wertschätzung ausdrückt – wer dies mitgestalten und erleben darf, weiß dieses Privileg zu schätzen!
Vielleicht sollten Sie, anstatt sich in zweifelhaften Fernsehshows zu verlieren, sich wieder entsprechender Fachliteratur zuwenden und inklusive Klassen persönlich besuchen und Ihre Sorgen könnten sich mit Leichtigkeit beheben lassen. Zu Ihrer Kritik an der vermeintlichen Krankschreibung von Kindern mit Behinderung: Allein Ihre Wortwahl ist äußerst bedenklich und auch die Grundaussage solcher Betitelungen wenig hilfreich, denn ich erlebe immer wieder, dass gerade in gut geführten Inklusionsklassen sich eine Statuszuschreibung geradezu aufhebt und als unnötig erweist, was sich für alle Beteiligten als große Erleichterung herausstellt.
Dies wird sich, davon gehe ich aus, auch in kommenden Verwaltungsreformen widerspiegeln. Schon jetzt hat das Kultusministerium Baden-Württemberg entsprechend reagiert und schreibt einem Anspruch auf einen sonderpädagogischen Bildungsstatus nur zwei Jahre Gültigkeit zu. Danach sind wieder alle Karten offen und es muss sich neu begegnet werden!
Also, lieber Herr Köhler, bitte das Kind nicht mit dem Badewasser auskippen! Die Inklusion befindet sich in ihren Anfängen, sie definiert sich durch ein Suchen und kann natürlicherweise noch nicht alle Antworten liefern. Aber sicher ist schon heute, dass so wie wir über historische Quellen schmunzeln, die vor mehr als einem Jahrhundert in dem gemeinsamen Unterricht von Mädchen und Jungen ein Scheitern des Schulsystems empfanden, wir uns auch eines Tages über Artikel wie die Ihrigen wundern werden. Denn es wird auch die Inklusion in einigen Jahrzehnten nicht mehr hinterfragt werden. Sie entspringt einem geisteswissenschaftlichen Impuls, der sich natürlicherweise entfalten wird, da er eine neue Entwicklungsphase in unserer Menschheitsgeschichte darstellt.
Hier kann es kein Zurück, kein Scheitern geben. Auch wenn Ihre Thesen provokant klingen und journalistisch für Aufsehen sorgen, sie bedeuten tatsächlich einen Schlag ins Gesicht für Pädagogen, Eltern und Schüler, die in ihrem täglichen Bestreben wertvolle inklusive Arbeit – oder sagen wir vielleicht als Zugeständnis – Vorarbeit leisten.
Auf eine gute Zusammenarbeit!
Zur Autorin: Sonja Cordes-Schmid ist Sonderschullehrerin an einer Staats- und einer Waldorfschule.