«Die Waldorfbewegung ist weiß, wohlhabend und seltsam» (white, wealthy and weird) – so die Aussage von Monique Brinson in einem Interview auf Zeit Online im Februar 2020. Brinson war bis vor kurzem Schulleiterin der ersten Interkulturellen Waldorfschule in den USA in Oakland/Kalifornien, einer public school mit einer äußerst diversen Schülerschaft aus Latinos und Latinas, Afroamerikaner:innen, Asiat:innen und Euroamerikaner:innen. In der Waldorfbewegung, so Brinson in dem Interview, stelle sie selbst eine kleine Minderheit dar: People of Color seien selten und die wenigen, die es gebe, kämen aus der Mittelschicht. Mit ihrem Verweis auf die fehlende Diversität legt Brinson eine Wunde der Schulbewegung frei. Die Datenlage ist dürftig, aber eines wird nicht zu bezweifeln sein: Die im deutschen Schulsystem am meisten benachteiligte Gruppe – Schüler:innen mit Migrationshintergrund aus ökonomisch schwachen sozialen Schichten – ist an den Waldorfschulen kaum vertreten. (1) Die Schüler:innenschaft der Waldorfschulen ist relativ homogen und ist keinesfalls ein repräsentativer Ausschnitt aus der Gesellschaft, in der inzwischen mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben und / oder Deutsche of Color sind.
Es ist notwendig, eine solche Feststellung vor der Folie des gegenwärtigen Diskurses um Diskriminierung und Rassismus in angemessener Weise zu gewichten. Dabei ist die Auffassung, Rassismus sei zu assoziieren mit Hitler, Ku-Kux-Klan und dem Anzünden von Unterkünften für Geflüchtete und erschöpfe sich in vorsätzlichen rassistischen Handlungen, in den letzten Jahren zurecht als unzureichend entlarvt worden.
Gesellschaftlich wirksamer sind vielmehr gerade die nicht-intendierten Formen des Ausschlusses beziehungsweise der Benachteiligung von Gruppierungen «auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften». Man spricht in solchen Fällen von strukturellem Rassismus und weist damit darauf hin, dass sich über Jahrhunderte hinweg durch Kolonialismus und Nationalstaat Formen gesellschaftlicher Herrschaft herausgebildet haben, die Menschen aufgrund ihres Aussehens, ihrer Sprache, ihrer Religion oder ihrer Herkunft systematisch benachteiligen; wenn diese systematische Benachteiligung regelhaft in bestimmten Organisationen, Sektoren oder Branchen – etwa bei Polizei und Justiz, beim Wohnungs-und Arbeitsmarkt oder bei der Bildung – auftritt, bezeichnet man das als institutionelle Diskriminierung.
Wie lässt sich vor diesem theoretischen Hintergrund die Waldorfbewegung einordnen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Blick auf die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft hier eine zwar nicht intendierte, aber doch faktisch existente Selektion vorliegt und es daher durchaus berechtigt ist, von institutioneller Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund im Kontext eines strukturellen Rassismus zu sprechen.
In Deutschland versuchen die Interkulturellen Waldorfschulen in Mannheim, Berlin und Dresden eine alternative Praxis mit weitaus größerer Diversität zu realisieren; zudem hat sich ein Arbeitskreis interkultureller, sozial-integrativer Initiativen gebildet, der eine dezidiert antirassistische Waldorfpädagogik einfordert. In diesem Kontext sollen auch Elemente des Lehrplans und der vorliegenden Unterrichtsmaterialien kritisch hinterfragt werden. Erste Überlegungen und Beispiele seien angeführt.
Der Lehrplan bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben auseinanderzusetzen. Einige dieser Aufgaben sind biografisch und haben mit der Fähigkeit zu tun, stabile und kohärente Identitäten aufzubauen, während andere auf dem sozialen und kulturellen Feld liegen und sich auf die Fähigkeiten und das Wissen beziehen, die für ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft notwendig sind. In Anbetracht der Tatsache, dass wir in einer kulturell vielfältigen und vielfach vernetzten Welt leben, handelt es sich dabei um die Fähigkeiten zur Empathie und zu einem erzählerischen Einfühlungsvermögen (die Kompetenz, die Geschichte eines anderen aus dessen Perspektive zu erzählen), um ein Verständnis für die kulturelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt sowie um die Fähigkeit zur demokratischen Beteiligung.
In diesem Zusammenhang sollte ein ganzheitliches Lernen angestrebt werden, das die ganze Person einbezieht, nicht nur den Intellekt; Kinder lernen durch Nachahmung, Teilnahme an sozialen Praktiken und vor allem durch ihr Gefühlsleben. Das bedeutet, dass sie Lehrkräfte brauchen, die kulturelle Vielfalt vorleben und Schulkulturen, die wirklich integrativ sind. Es bedeutet zudem, dass der Stoff, in den die Heranwachsenden eintauchen, kulturelle und geschlechtsspezifische Vielfalt enthält. Angesichts dieser Zielsetzung werden manche der traditionellen Unterrichtsinhalte zu überprüfen sein und möglicherweise müssen sie modifiziert werden.
So stellt sich etwa im Fach Geschichte die Herausforderung, die Geschehnisse aus einer pluriversalen und damit auch post-kolonialen Perspektive zu unterrichten. Das könnte für die Zeit des Mittelalters bedeuten, dass die afrikanische Geschichte einbezogen wird. Dann wäre das Reich von Mansa Musa (1312 bis 1337) in Mali und Westafrika zu behandeln, dessen Hauptstadt Timbuktu eines der Zentren islamischer Gelehrsamkeit war; der König selbst – so berichten mehrere Quellen – war fromm, großzügig und ungeheuer reich und gab bei einer Wallfahrt nach Mekka so viel Gold aus, dass der Kurs des Goldes infolge der plötzlichen Goldschwemme erheblich an Wert verlor. Oder es wäre der umfangreiche transkulturelle Handel mit seinem Zentrum in Asien zu behandeln, der schon um das Jahr 1000 stattfand und bei dem ein arabisches Schiff, ohne Metall aus Holz und Tauwerk gebaut, von Bengalen kommend, bei Intan in der Javasee sank, beladen mit einer Ladung Zinnbarren aus Indonesien, industriell gefertigter chinesischer Keramik und Spiegeln, buddhistischen und hinduistischen Gegenständen, den Überresten von Ziertüren aus Indien, gusseisernen Töpfen, Glasperlen aus Arabien und Goldschmuck aus Kambodscha. Auch sollten die großen religiösen Strömungen – die Religiosität indigener Völker, die chinesische Religiosität, der Hinduismus, der Buddhismus, das Judentum, das Christentum und der Islam – gelehrt werden; nicht nur, um eine Verständnisgrundlage für Kulturen zu schaffen, die von diesen Ideen geprägt wurden, sondern auch, um Schüler:innen zu sensibilisieren und zu zeigen, wie verflochten bzw. entgrenzt jene Religionen und Kulturen sind.
Zudem ist zu bedenken, dass ein Großteil unserer heutigen globalen Situation die direkte oder indirekte Folge des europäischen Kolonialismus ist. Daher sollten die Kolonialzeit und deren Folgen für die Betroffenen ab Klasse sieben ausführlich behandelt und in einen direkten Zusammenhang mit den Problemen gebracht werden, mit denen wir in der heutigen kulturell diversifiziert-vernetzten und doch polarisierten Welt konfrontiert sind.
Darüber hinaus erscheint es sinnvoll und notwendig, die Rassentheorien zu behandeln, die im Zeitalter der europäischen Aufklärung entstanden sind und im 19. Jahrhundert ausdifferenziert wurden. Das könnte etwa in der neunten und dann ausführlicher in der zwölften Klasse geschehen, wenn auch die großen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität thematisiert werden. Denn der Rassismus stellt so etwas wie ein Schattenbild dieser Impulse dar; seine Entstehung macht deutlich, dass die revolutionären Kämpfe um die Menschenrechte in Amerika und in Frankreich zunächst von privilegierten Weißen vorangetrieben wurden, dass zahlreiche People of Color davon ausgeschlossen waren und dass deren Kampf um Emanzipation noch heute andauert. Gegenwärtige Bildung sollte ein waches Bewusstsein für diese Zusammenhänge schaffen.
Manche Lehrkräfte sehen vielleicht eine nur geringe Notwendigkeit, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, weil sie glauben, dass die Waldorfpädagogik per se nicht-diskriminierend sei. Dabei verweisen sie auf Rudolf Steiners Freiheitsphilosophie, die in der Entwicklung zur Individualität – über Geschlechtszugehörigkeit und Ethnizität hinaus – das entscheidende Element moderner Humanität sehe. So zutreffend eine solche Aussage ist, so wesentlich erscheint die Ergänzung, dass Rudolf Steiner ebenso das Motto der Sozialethik formuliert hat, demzufolge heilsame soziale Verhältnisse nur entstehen können, wenn die ganze Gemeinschaft – und damit kann auch die Weltgemeinschaft gemeint sein – sich in der Seele des Einzelnen spiegle. Daher sollten Waldorfpädagog:innen die Kämpfe gegen institutionellen Rassismus, Geschlechterdiskriminierung und wirtschaftliche Marginalisierung ernst nehmen und mitführen (als Betroffene oder Verbündete), und Waldorfschüler:innen sollten verstehen, was Rassismus ist und wie er immer noch funktioniert. Wie Susan Arndt schreibt:
«Über Jahrhunderte hinweg hielten Weiße weiße Räume weiß, ohne sich an rassistischen (Sprach-) Handlungen oder der Unterrepräsentation von BIPoC zu stören. Gar nicht erst eingeladen, konnten BIPoC nicht einmal ausgeladen werden. Aus der Cancel-Culture-Debatte spricht also letztlich die weiße Empörung, tradierte Privilegien – wie eine selbstständige Präsenz, Definitionsmacht über Räume und Diskurse und Handlungsfreiheit in Richtung Diskriminierten – als infrage gestellt zu empfinden».
Die Waldorfschulbewegung kann sich nicht aus der Debatte um Rassismus heraushalten, nur (und gerade) weil sie sich nicht für rassistisch hält. Der Klett Verlag, einer der größten Verlage für pädagogische Fachbücher, überarbeitet alle seine Publikationen unter postkolonialen Gesichtspunkten. Sogar ein Lehrbuch über die Geographie Afrikas wurde 2021 modifiziert, um Terminologie und Perspektiven zu ändern. Machen die Waldorfverlage das auch?
Anmerkung:
1 | Direkte Zahlen dazu gibt es nicht, aber aus der neuesten Absolvent:innen Studie von Randoll und Peters geht hervor, dass 97,5% der ehemaligen Waldorfschüler:innen, die zum Erhebungszeitpunkt 18 bis 39 Jahre alt waren, in einem rein deutschsprachigen Elternhaus aufwuchsen, 0,7 % wuchsen zweisprachig auf und lediglich 1,8 % kamen aus einem nichtdeutschsprachigen Haushalt, vgl. Randoll, Dirk /Peters, Jürgen (2021): Wir waren auf der Waldorfschule. Weinheim Basel: Beltz Juventa, S.21
Dr. Martyn Rawson ist Professor an der Nationalen Tsinghua Universität in Taiwan. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Waldorfpädagogik und Mitherausgeber des englischsprachigen Waldorflehrplans.
Dr. Albert Schmelzer, *1950, unterrichtete an der Mannheimer Waldorfschule Geschichte, Deutsch, Kunstgeschichte und Religion. Heute ist er als Professor am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule am Standort Mannheim tätig. Veröffentlichungen zur sozialen Dreigliederung, zur Geschichtsdidaktik, zur Allgemeinen Menschenkunde und zu den Weltreligionen.
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