Erziehungskunst | Herr Pollmer, in einem gemeinsamen Positionspapier des ZDH und der Kultusministerkonferenz (KMK) wollen Sie die Berufsausbildung wieder attraktiver machen. Dabei wollen immer mehr Schüler (und Eltern) das Abitur. Die Anzahl der geschlossenen Ausbildungsverträge befindet sich dagegen auf einem historischen Tiefstand. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Mirko Pollmer | Die demografische Entwicklung und eine anhaltend hohe Studierneigung junger Menschen setzen die duale berufliche Ausbildung einem zunehmenden Wettbewerbsdruck aus. Steigende Übertrittsquoten in die Gymnasien und Karriereplanungen, die primär auf ein akademisches Studium fokussieren, haben zu Verschiebungen im Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung geführt.
Mittlerweile hat sich die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse und der Studienanfänger in etwa angeglichen. Vor diesem Hintergrund hat der ZDH im Jahr 2015 die bildungspolitische Initiative »Höhere Berufsbildung« ins Leben gerufen, um chancenreiche berufliche Bildungs- und Karrierewege im Handwerk aufzuzeigen und weiterzuentwickeln.
Ziel ist es, die Attraktivität der Berufsbildung zu stärken und die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu erhöhen. Eine erste bundesweite Bildungsmarke im Rahmen dieser Initiative ist der parallele Erwerb eines anerkannten Berufsabschlusses und der Hochschulreife. Ziel ist die Schaffung eines doppelqualifizierenden Bildungsgangs, der durch die Nutzung von inhaltlich-fachlichen Schnittmengen einen zeitlichen Mehrwert für die Absolventinnen und Absolventen realisiert. Für das Jahr 2017 ist die Entwicklung bei den geschlossenen Ausbildungsverträgen für das Handwerk sehr erfreulich. Fast 4.000 Jugendliche mehr als noch im Vorjahr haben eine Ausbildung im Handwerk gestartet.
Bis Ende September sind über 135.000 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen worden, das entspricht einer Steigerung von knapp drei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mit diesem Plus an neuen Ausbildungsverträgen verfestigt sich in diesem Jahr ein Trend, der schon in den beiden Vorjahren erkennbar war.
EK | Herr Hutzel, warum eignen sich Waldorfschulen besonders für duale Ausbildungswege? Sind Kooperationen mit anderen Verbänden geplant?
Hans Hutzel | Echte duale Ausbildungswege wären ein schönes Zukunftsziel. Das wird kurz- und mittelfristig an den Waldorfschulen kaum erreichbar sein. Ein erster Schritt ist aber die in den Waldorfschulen angelegte breite Förderung der Schülerinnen und Schüler über kognitiv vermitteltes Wissen hinaus bis in die »gymnasial geprägten« Oberstufen hinein zu erhalten und durch reale Kooperationspartner im gesellschaftlichen Umfeld auszubauen und durch konkret praktische Erfahrungen anzureichern.
Dazu gibt es derzeit eine Initiative mit dem ZDH als Dachverband zur Stärkung der vielerorts bereits gelebten Kooperationen mit Betrieben der jeweiligen Umgebung. Bottom-up trifft top-down und es soll ein breiter überschulischer und überregionaler Diskurs über mögliche Wege angeregt werden.
EK | Herr Pollmer, in dem gemeinsamen Positionspapier ist vor allem von »leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern« die Rede, die Sie mit Ihrer Initiative ansprechen wollen. Wie wollen Sie das negative Image – »Dann reicht es halt nur für eine Lehre!« – nachhaltig abbauen?
MP | Das »BerufsAbitur« ist ein Angebot für Jugendliche mit dem Bildungsziel Abitur. Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Karriere im Handwerk ist die duale Erstausbildung. Aufbauend auf der Erstausbildung auf Stufe 4 des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) umfasst die berufliche Fortbildung Abschlüsse auf allen folgenden DQR-Stufen. Auf den Stufen 6 und 7 entsprechen die Abschlüsse den hochschulischen Bachelor- bzw. Masterabschlüssen. Die bekanntesten Abschlüsse der beruflichen Fortbildung sind der Meister, der Servicetechniker und der Geprüfte Betriebswirt.
EK | Und was lässt Sie hoffen, dass das Angebot »BerufsAbitur«, also Abitur mit Lehre, angenommen wird? Bedeutet dies doch auch eine doppelte zeitliche Belastung für die Schüler?
MP | Der Bildungsweg »BerufsAbitur«, also duale Ausbildung und Abitur, eröffnet chancenreiche Bildungs- und Karrierewege im Handwerk und ist ein attraktives Angebot für Jugendliche mit dem Bildungsziel Abitur. Das Angebot leistet einen wichtigen Beitrag zur Stärkung und Weiterentwicklung der Höheren Berufsbildung.
Ja, die Anforderungen dieses Bildungsweges sind hoch, das »BerufsAbitur« ist ein Angebot für Leistungsstarke. Für die Teilnehmenden ergibt sich eine Vielzahl von Vorteilen, wie zum Beispiel dass zwei Abschlüsse nach vier Jahren möglich sind, das heißt Berufsabschluss und Abitur; dass man sich nicht frühzeitig auf einen bestimmten Karriereweg festlegen muss; dass das »BerufsAbitur« eine echte Alternative am Ende der Klasse 10 zur Sekundarstufe II an Gymnasien darstellt; dass man Geld verdienen und die Möglichkeit zum Studium offenhalten kann und gleichzeitig berufliche Sicherheit durch eine abgeschlossene Ausbildung hat, also sich Chancen für einen Karriereweg in allen beruflichen und wissenschaftlichen Disziplinen eröffnen.
EK | Herr Hutzel, können Sie bestätigen, dass auch an Waldorfschulen der Trend zum Abitur anhält oder gar steigt, oder liegen bei dieser Schulart andere Erfahrungen vor?
HH | Es gilt, die Ausgewogenheit zwischen den Lern- und Erfahrungsfeldern kognitiv-akademisch, sozial, handwerklich-praktisch und künstlerisch ästhetisch zu erhalten. Der Druck der Akademisierung ist auch in den Waldorfschulen spürbar: Tendenzen wie Akademisierungswahn nach dem Pisa-Schock, bestehende Ausbildungen in Studiengänge umzubauen und gesellschaftliche Entwertung der handwerklich-praktischen, aber auch der sozialen Berufe bedrängen die im Lehrplan der Waldorfschule angelegte Ausgewogenheit. Ein nichthandwerkliches Beispiel ist die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger an der Fachschule, wie sie die Emil-Molt-Akademie in Berlin anbietet. Wir konkurrieren zunehmend mit akademischen Ausbildungen in diesem Bereich. Dabei spiegeln uns die sozialen Einrichtungen, dass gerade die praktischen Ausbildungsanteile sehr wertvoll für einen erfolgreichen Berufsweg sind.
EK | Herr Pollmer, es wird in dem Positionspapier für mehr Flexibilität und Durchlässigkeit der Bildungswege und der verschiedenen Abschlüsse geworben. Bedeutet das, dass man mit einem Gesellenbrief in der Tasche an eine Uni kann?
MP | Mit Beschluss zum »Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung« hat die Kultusministerkonferenz 2009 einheitliche Kriterien für den Hochschulzugang beruflich qualifizierter Bewerber vereinbart. Meister und Inhaber ähnlicher Abschlüsse erhalten den allgemeinen Hochschulzugang. Gesellen erhalten einen fachgebundenen Hochschulzugang, wenn sie über drei Jahre Berufserfahrung verfügen und ein Eignungsfeststellungsverfahren der Hochschule durchlaufen.
Damit besteht für Gesellen die Möglichkeit zum Studium an einer Fachhochschule und bestimmter einschlägiger Studiengänge an Universitäten nach Maßgabe der Qualifikationsverordnung.
EK | Herr Hutzel, gibt es hinsichtlich der Doppelqualifikation schon erfolgreich praktizierte Modelle bei Waldorf?
HH | Natürlich sind hier die Leuchttürme zu nennen: Hibernia Schule, Kassel, Nürnberg aber in jüngster Zeit auch die Waldorfberufskollegs, die sich in einem eigenen Arbeits- und Forschungszusammenhang vernetzen. Ob sich solche sehr aufwändigen und teuren Modelle wie die genannten heute noch realisieren lassen, ist fraglich. Aber es gibt immer wieder Ansätze dies durch konkrete Kooperationen mit Betrieben zu realisieren. So verstehe ich auch den Auftrag des assoziativen Wirtschaftens: konkretes Zusammenarbeiten mit außerschulischen Partnern.
EK | Herr Pollmer, In ihren länderspezifischen Modellen für einen doppelqualifizierenden Bildungsgang ist der mittlere Schulabschluss Zugangsvoraussetzung.
MP | Das »BerufsAbitur« ist ein attraktives Angebot für Jugendliche mit dem Bildungsziel Abitur. Entsprechend den geltenden KMK-Rahmenvereinbarungen ist ein mittlerer Schulabschluss Zugangsvoraussetzung.
EK | Herr Hutzel, gibt es ein solches verlängertes Schulmodell mit einem 14. Schuljahr nicht auch schon bei Waldorf?
HH | Nicht in dieser konkreten Form. Da schränken die rigiden Finanzierungsmechanismen die Bewegungsfreiheit der Schulen leider stark ein. Das wäre eine ganz konkrete praktisch-politische Forderung hier mehr Beweglichkeit und Kreativität – beispielsweise in finanzierten Modellprojekten – zu ermöglichen.