Der Beitrag befasst sich mit den Chancen der fortschreitenden Technisierung und Digitalisierung (als gegenwärtigen Höhepunkt technischer Abstraktion) und sieht im dadurch immer leichter zu erreichenden materiellen Wohlstand bei geringstem Aufwand eine große Chance zu neuen Freiheiten, zwanglosen Zeiträumen, Entschleunigung und kreativer Selbsterfüllung ohne drückende Last zwingender Alltagsverrichtungen, schließlich die Möglichkeit zur sozialen Hinwendung und zu menschenwürdigeren Lebensformen. – Eine sozialere Welt ermöglicht durch Technik und Digitalisierung? Wachsendes Abstraktionsvermögen, ist wohl unbestritten die Hauptquelle der heutigen naturwissenschaftlichen Glanzleistungen. Durch die rasant fortschreitende technische Entwicklung wird allerdings nur für einen kleinen Teil der Menschheit auch »Wohlstand« sichergestellt. Denn dieser »Wohlstand« hat für die gesamte Menschheit gravierende Missstände zur Voraussetzung und zur Folge.
Technische Innovationen erzeugen im Zusammenspiel mit wirtschaftlichen Interessen eine ungeheure industrielle Verwertungsdynamik. Sie sind – mit den entsprechenden rechtlich-politischen Voraussetzungen – in der Lage, sich förderlich, aber auch als Zerstörungswerk an den Lebensgrundlagen der Menschheit zu erweisen. Diese sich verselbständigende Dynamik der Zerstörung ist Ausdruck einer abstrakten, lebensfernen gewissenlosen Intelligenz. Dass nun gerade der vorläufige Höhepunkt dieser technischen Entwicklung, die Digitalisierung, der Menschheit die Mittel an die Hand gibt, eine soziale (Neu)Orientierung hin zum Menschen zu ermöglichen, ist nicht leicht verständlich.
Liegt das Paradox der Digitalisierung, wie letztlich jeder Technik, nicht gerade in ihrer Versuchung, Lebensprozesse zu optimieren, im einseitigen Blick auf ihren materiellen Nutzen, bei gleichzeitiger Ausblendung der Schattenseiten? Technikfaszination im Bereich des materiellen Bewusstseins erzeugt eine unbemerkte Suggestion, einen nützlichen Wahn, damit verbunden die Illusion eines grenzenlosen materiellen Fortschritts. Die daraus entstehenden Probleme einer zwangsläufigen systemischen Zerstörung unserer Lebenswelt sind zurzeit überall auf unserem Planeten wahrnehmbar.
In diesem Zusammenhang erscheint es richtig, die Frage, die die von Rudolf Steiner beschriebene »Bewusstseinsseele« aufwirft, erneut zu stellen. Inwiefern kann die Erkenntnis des toten Geistes in der Technik zum Erwachen der Freiheit, zur Erkenntnis des handelnden »Ich« in der Menschenseele führen? Wie wird aus abstrakten Begriffsleichnamen, aus geistloser Intelligenz, die Erkenntnis des »Ich« in der eigenen Wesenheit erwachen? Was für Chancen technischer Entwicklungen sind also wirklich gemeint, wenn diese selbst zur Ursache globaler Krisen auswachsen? Auch wenn die technische Entwicklung unsere Kultur mit materiellen Glanzleistungen imprägniert, schreiben wir den Möglichkeiten der Digitalisierung, der Technik, insgesamt mehr zu, als sie für einen fruchtbaren Fortschritt der Menschheit aus sich heraus zu leisten vermögen. Sind wir also durch diese Entwicklung nicht dringlicher aufgefordert, echte Verantwortung zu übernehmen und die Folgen unseres Fortschrittshandelns im eigenen Bewusstsein zu realisieren? Wie lässt sich Technik vor diesem Hintergrund überhaupt für einen fruchtbaren Fortschritt einsetzen? Wie durchbrechen die im Artikel erwähnten »Visionäre« die intellektuelle Gefangenschaft in einem System »von Maschinentieren, die der Mensch selbst hervorbringt« (Steiner) und das beginnt, sich selber zu zerstören?
Lassen sich die damit verbundenen spirituellen Gegenwartsaufgaben an Technik oder Digitalisierung delegieren? Lässt sich freiheitlich menschliche Selbstbestimmung mit zunehmender algorithmischer Fremdsteuerung vereinbaren? Angesichts der geschwürartigen invasiven Ausbreitung digitaler Technik in alle Lebensbereiche scheint mir dieser durch die »Bewusstseinsseele« eingeforderte umgewendete Blick der fruchtbarere zu sein, wenn es um verantwortungsbewusste, der Menschheit dienende Zukunftsperspektiven geht. Das ist dann letztlich auch eine Frage der Menschenwürde.
Mit welchen spirituellen Aufgaben konfrontiert uns die technische Entwicklung im Hinblick auf die Entwicklung der »Bewusstseinsseele« wirklich?
Eine Antwort könnte sein, dass sich angesichts der bedrohlich werdenden Zerstörungspotenziale unserer abstrakten Intelligenzleistungen in uns eine geistig seelische Ohnmacht erhebt, eine Ohnmacht, die zum Gewissensdruck wird durch unser Mitgefühl hinsichtlich der Zukunft von Mensch und Erde. Intellektuelle Bescheidenheit und Selbstbesinnung wären unter diesen Voraussetzungen zwei wesentliche Charaktereigenschaften für die Entwicklung der Bewusstseinsseele.
Zum Autor: Frank W. Grave ist Werk- und Kunstlehrer an FWS Freiburg Rieselfeld.