Bindungsscheu und Bindungssehnsucht. Die neue Shell-Studie 2010

Frank Hörtreiter

Die jungen Leute sind heute nicht schlechter, verantwortungsloser oder »sexualisierter« als früher. Auch die Bereitschaft, sich politisch oder sozial einzusetzen, nimmt nicht ab. In ihnen lebt nach wie vor die Hoffnung auf eine treue Liebesbeziehung und auf Kinder. Und doch entscheiden sie sich immer später für eine Ehe oder den Nachwuchs.  Bei Jugendtagungen und im Aufklärungsunterricht in Waldorfschulen habe ich erlebt, dass ihre düsteren Vermutungen grotesk übertrieben sind: Die Kinder und Jugend­lichen glauben, dass 80 Prozent der 15-Jährigen schon ihr »erstes Mal« hinter sich hätten (in Wahrheit unter 20 Prozent) und dass nur ein Drittel der Ehen lebenslang be­stünden (tatsächlich zwei Drittel).

Engagiert, aber melancholisch

Ähnlich ist es beim gesellschaftlichen Engagement: Die Jugendlichen suchen gesellschaftliches Engagement, aber sie scheuen die Bindung. Selbst Greenpeace hat Probleme mit Beitritten, nicht aber mit Unterstützern. Viele Jugendliche sind bereit, sich einzusetzen – spontan oder ähnlich wie bei einem »Freiwilligen Sozialen Jahr« – solange von ihnen keine langfristige Bindung verlangt wird. Man kann sich über diesen Enthusiasmus freuen, der nicht nur im Umkreis der Waldorfschulen bemerkbar ist: 39 Prozent der Jugendlichen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich sozial. Klaus Hurrelmann, der Verfasser der Shell-Studie nennt die jungen Leute pragmatisch und keineswegs pessimistisch.

In der Shell-Studie werden etwas befremdlich widersprüchliche Motive für sozialen Einsatz gegenübergestellt: entweder selbstlos oder in der Erwartung, dass der Helfer selber »etwas davon hat«. Hier bestätigt die Mehrheit der Befragten, dass sie sich selber auch etwas von ihrem Einsatz versprechen. Das scheint mir keineswegs die Selbstlosigkeit auszuschließen, denn Abenteuerlust und Begegnungsfreude widersprechen ja in der Jugend keineswegs der Uneigennützigkeit, nur will sich keiner als blutleer und perfekt tugendhaft darstellen.

Sinngemäß bestätigen die jungen Leute: »Ich tue gern etwas, was anderen nützt und mir zugleich intensive Erfahrungen und Begegnungen einbringt.« Dies erleben die Leiter der Ferienlager der Christengemeinschaft auch immer wieder. Es gibt seit Jahrzehnten eine große und beständige Zahl von jungen Menschen, die sich gern in der Arbeit für Kinder und Jugendliche drei Wochen lang bis an die Grenzen ihrer Kräfte anstrengt und vorher und nachher schulen lässt. Dass diese Arbeit nicht »selbstlos« im Sinne eines süßsauer dargebrachten Opfers geleistet wird, sondern Freude macht und ersehnte Gemeinschaft bringt, das wird immer wieder gesagt – bezahlt wird keiner dafür.

Doch welcher der Jugendlichen würde sich beispielsweise verpflichten, in den nächsten fünf Jahren ständig mitzuarbeiten? Viele bleiben ja treu dabei, aber versprechen mag es kaum einer. Anscheinend gehört zu der von den Autoren der Shell-Studie als realistisch (»pragmatisch«) bezeichneten Lebenshaltung eine gehörige Prise Melancholie. »Woher weiß ich denn, ob ich das in einem Jahr noch will?« ist eine typische Äußerung. Und diese nachdenkliche Skepsis scheint abzufärben auf die Entschlüsse zu lebenslangen Bindungen in Beruf und Partnerschaft. Ich bin Pfarrer, und die Paare, die ich heute traue, sind viel älter als vor vierzig Jahren. Ebenso rückt das Alter der Kandidaten für die Priesterweihe immer weiter herauf – es handelt sich ja um den klassischen Fall einer lebenslänglichen Berufswahl, und die fällt schwer. Es scheint, als habe sich eine Stimmung des Aufschiebens und des Selbstzweifels breit gemacht: »Wer weiß, ob ich dafür schon reif bin …«. Und so haben Kinder immer ältere Eltern – sind sie deshalb reifer? – und naturgemäß weniger Geschwister.

Nesthocker

Es passt dazu auch, dass die jungen Leute immer länger zu Hause bleiben: 38 Prozent der jetzigen 22- bis 25-Jährigen wohnen noch im »Hotel Mama«. Dazu hat natürlich auch beigetragen, dass sie es – da die Eltern immer toleranter werden, zum Beispiel gegenüber engen Freundschaften der »Kinder« – zu Hause besser aushalten, als in früheren Zeiten. Aber merkwürdig ist es auf den ersten Blick schon, dass die Heranwachsenden solch eine Abenteuerlust und Einsatzbereitschaft zeigen und doch brav weiter zu Hause leben. Eine Lösung des Rätsels könnte sein: Die jungen Leute bringen Ideale auf die Erde mit. Sie setzen sich gern für sie ein, fühlen sich aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht stark genug, sie schon dauerhaft und treu in die Welt zu tragen. Da ist das »Zuhause« als Rückzugsmöglichkeit schon ganz »praktisch«, aber das soll an Begegnungen und selbstlosem Einsatz nicht hindern.

Sich selber folgen können

Johannes Lenz wird, seit er seine Lebensgeschichte ver­öffentlicht hat, immer wieder in Oberstufenklassen eingeladen – nicht nur an Waldorfschulen. Er beschreibt die Nazi-Verfolgung seiner Eltern und seiner Kirche, wie seine Schulbildung und Studienmöglichkeit gekappt wird und wie er als blutjunger Kriegsgefangener in Hunger, Überlastung und geistigem Leerlauf die Menschenwürde zu bewahren sucht. Was ist es, das die jungen Menschen an solchen Schilderungen interessiert? Wohl kaum das äußerlich Heldenhafte, sondern die Kraft, sich selbst zwischen Gier und Erden-Verneinung im Gleichgewicht der Freiheit zu halten, »insofern er in jedem Augenblick seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist«, wie es in der »Philosophie der Freiheit« heißt. Wir können den jungen Leuten nur wünschen, dass sie auf Erden das Feld für die mitgebrachten Ideale vorfinden und dass ihnen dieses Feld nicht durch die Ablenkungen und den Meinungsdruck einer vermeintlichen Mehrheit vernebelt wird. Obwohl diese Generation sich selbst so melancholisch fühlt, gibt es wenig Grund niedergeschlagen zu sein.

Literatur: Mathias Albert, Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel: Jugend 2010 – eine pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt 2010 | Johannes Lenz: Erinnern für die Zukunft – eine Autobiographie, Stuttgart 2002