Ausgabe 04/24

Damit wir uns verständlich machen

Jan Mensebach

An vielen Waldorfschulen existiert Sprachgestaltung nicht mehr. Sie gilt als antiquiert, nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr anschlussfähig. In seiner Tätigkeit als Dozent für Sprachgestaltung am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin erlebt Jan Mensebach, wie aktuell und essenziell das Thema Sprachgestaltung ist. In seinem Artikel spricht er darüber, warum Menschen das Gefühl von Atemnot überkommt, wenn sie eigentlich zu viel Luft in der Lunge haben, weshalb Heiserkeit insbesondere bei Lehrer:innen ein Teufelskreis ist und warum lautunterstützende Gebärden gerade bei Kindern eine weitreichende Wirkung haben. Ein Plädoyer für die Rückkehr der Sprachgestaltung an Waldorfschulen. 

Ich erlebe zwei sehr unterschiedliche Reaktionen auf das Wort «Sprachgestaltung»: Entweder ein großes Fragezeichen auf der Stirn meines Gegenübers, weil sie sich unter dem Begriff gar nichts vorstellen kann, oder die Person setzt unmittelbar an, mit volltönender, vibrierender, pathetisch klingender Stimme und einer völlig übertriebenen Artikulation zu sprechen. Dies wiederum führt dann bei mir zu einem großen Fragezeichen auf der Stirn. Dazu aber erst später. 
 

Sprache oder Sprechen gestalten – eigentlich sprechen wir hier über eine Selbstverständlichkeit, die keine ist. Sprechen ist so alltäglich für uns, dass wir uns gar nicht klar machen, dass es gewisse Fähigkeiten braucht, vor einem Publikum zu sprechen. Wir sind so an unsere Sprecheigenheiten gewöhnt, dass sie uns oft gar nicht mehr auffallen. 
 

An vielen Waldorfschulen existiert Sprachgestaltung schlichtweg nicht mehr. Sie gilt als zu antiquiert, nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr anschlussfähig. In meiner Tätigkeit als Dozent für Sprachgestaltung am Seminar für Waldorfpädagogik erlebe ich, wie brandaktuell und essenziell das Thema Sprachgestaltung eigentlich ist und dass sie dringend einen Platz in den Schulen braucht.  
 

Die Sprachgestaltung wurde von Marie Steiner von Sievers und Rudolf Steiner entwickelt und zur Schulgründung der ersten Waldorfschule (1919) den werdenden Lehrer:innen ans Herz gelegt. Steiner kritisierte schon 1898 in dem «Magazin für Literatur» das mangelnde Können zeitgenössischer Vortragsredner:innen. Seiner Meinung nach trägt eine vortragende oder öffentlich sprechende Person eine Verantwortung dem Publikum gegenüber. Es sei Aufgabe des Sprechenden, die Sprache so zu gestalten, dass das Gegenüber sie gut und verständlich aufnehmen kann. Im genannten Magazin schreibt er: «… Bei der Gestalt, welche unser öffentliches Leben angenommen hat, kommt gegenwärtig fast jeder in die Lage, öfter öffentlich sprechen zu müssen. […] Die Erhebung der gewöhnlichen Rede zum Kunstwerk ist eine Seltenheit. […] Es fehlt uns fast ganz das Gefühl für die Schönheit des Sprechens und noch mehr für charakteristisches Sprechen. […] Die Leute, die verstehen, ob ein Vers richtig gesprochen wird oder nicht, werden immer seltener. […] Man hält künstlerisches Sprechen heute vielfach für verfehlten Idealismus. […] Dazu hätte man nie kommen können, wenn man sich der künstlerischen Ausbildungsfähigkeit der Sprache besser bewusst wäre.»
 

Ich glaube, jede:r von uns kann Steiner in mindestens einem Punkt zustimmen: Wir haben bewusst oder unbewusst sehr hohe Erwartungen an eine vortragende Person.
Sie soll gut zu verstehen sein, soll deutlich und laut genug sprechen, auf keinen Fall zu schnell, aber auch nicht zu langsam, schön soll die Stimme klingen und tragfähig, die Gestaltungsweise soll nicht langweilig oder monoton, sondern im besten Fall lebendig, ergreifend und mitreißend sein. Aber wehe, wenn wir selbst an der Reihe sind, vor einer Gruppe stehen und sprechen müssen. 
Das können simple Vorstellungsrunden bei irgendwelchen Veranstaltungen sein, Referate, Vorträge, Präsentationen, die wir halten müssen, oder wenn wir als Lehrer:innen vor Klassen stehen und mehrere Stunden hintereinander unterrichten. 
Wie oft schlägt da das Herz hoch zum Hals, der Mund wird trocken, die Atmung hastig und die Stimme kann kaum den Raum füllen. Es wird gegengesteuert mit mehr Druck im Halsbereich, damit man irgendwie lauter wird und dann macht die Stimme irgendwann schlapp und reagiert mit Heiserkeit.
Wenn ich nicht gefordert bin, gelingt es meistens ganz gut, mit der Ruheatmung verbunden zu bleiben. Es kann bewusst bis in den Bauch und die Flanken geatmet werden. Allerdings ist auffällig, dass viele Menschen im Moment des Sprechens das Atemsystem wechseln und unter Stress geraten. Jetzt ist der Atemvorgang keine rhythmische Einheit mehr von Spannen und Lösen, sondern die Einatemluft wird geholt, gezogen oder es wird nach ihr geschnappt. Diese Menschen schildern, Atemnot zu haben, in Wirklichkeit haben sie aber zu viel Luft, die sie nicht mehr loswerden.

Richtig sprechen kann gelernt werden
 

Als professioneller Sprechtrainer kann ich nur sagen, die Ansprüche, die wir an Redner:innen stellen, können die wenigsten ohne intensives Training erfüllen. Es ist eine Kunst, eine Sprech- oder Redekunst, die erlernt und geübt werden muss. Eine:r muss die Arbeit machen – entweder die Sprechenden oder die Zuhörenden. Oder, wie meine Ausbilderin Ursula Ostermai einmal so treffend formulierte: «Sie werden Dienstleister:innen.» 
 

Ein Teil der Arbeit besteht darin, zu lernen, die Stimme «ökonomisch» zu gebrauchen, also weder zu viel noch zu wenig Spannung beim Sprechen aufzubauen. Die Atmung regulieren zu lernen, sodass die Stimme weder überhaucht noch gepresst klingt. Menschen, die ihre Stimmen nicht ökonomisch benutzen, klagen oft über schnelles Ermüden der Stimme und Heiserkeit sowie häufigere Infektanfälligkeiten der Atemwege. Insbesondere Lehrer:innen sind davon betroffen. Die stimmliche Ermüdung mündet oft in eine forciertere Stimmgebung, was die Heiserkeit wiederum begünstigt und im weiteren Sprechverhalten dann zu einer stimmlichen Schonhaltung führt. Den wenigsten ist klar, dass sie mit Hilfe eines «Sprechtrainings» den Ursachen einer falsch belasteten Stimme entgegenwirken können. 
 

Undeutliche Artikulation, Unstimmigkeit im Zusammenspiel von Mimik, Gestik und Sprechen, zu hohes oder zu tiefes Sprechen, mühsame und geräuschvolle Atmung sind alles Merkmale unökonomischen Sprechens. 
 

Nachlässige Artikulation lässt sich leicht an der Mundpartie und am Gesicht ablesen. Im Mundbereich ist zu wenig Aktivität und Bewegung beim Bilden und Formen der Konsonanten und Vokale vorhanden. Einzelne Laute oder ganze Silben werden «verschluckt». Umgangssprachlich bezeichnen wir das als «nuscheln». 
Um die Artikulation zu schulen, arbeite ich seit 1996 mit den sogenannten lautunterstützenden Gebärden. In meiner Ausbildung zum Sprachtherapeuten lernte ich Gebärden für k, t, b und pf kennen, die den Laut durch eine bestimmte Bewegung unterstützen. Dieses Wissen habe ich am Ende meiner Ausbildung zum Sprachgestalter und Sprachtherapeuten in einem Praktikum in einer Einrichtung für Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen mit kognitiven, körperlichen oder mehrfachen Behinderungen angewandt und vertieft. Ich arbeitete mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund einer muskulären Unterspannung oder ihrer Behinderung sehr undeutlich oder überhaupt nicht sprechen konnten. Mit Hilfe der lautunterstützenden Gebärden konnte ich große Erfolge erzielen. Ich Laufe der Jahre erweiterte ich dieses Konzept und entwickelte für jeden einzelnen Konsonanten eine Gebärde, da sie mit entsprechend unterstützender Bewegung sofort klar und deutlich gesprochen werden konnten. 
So entstand die Broschüre «Die lautunterstützenden Gebärden – Übungen zur Förderung der Artikulation». Viele Menschen verwenden diese Broschüre und berichten, dass sie damit sehr erfolgreich an der Artikulation, insbesondere mit Kindern, arbeiten. 
Die lautunterstützenden Gebärden verhelfen zu mehr Bewusstsein bei der Lautbildung und sensibilisieren für das Lauterleben. Einen Laut mit einer Gebärde zu unterstützen, heißt, den Moment der Intonation mit einer bewusst geführten Bewegung zu verbinden. Diese Bewegung erzeugt die notwendigen muskulären Spannungsverhältnisse im Körper, die für eine deutliche Artikulation zur Verfügung stehen müssen. Sie wirkt dadurch auch unmittelbar auf die Atmung, indem sie entweder den Atem verdichtet oder beschleunigt.
Dies verstärkt wiederum die Plastizität des Lautes. Die lautunterstützenden Gebärden wirken wie ein Vergrößerungsglas. Der Laut wird durch sie räumlich sichtbar und körperlich spürbar gemacht. Je intensiver diese Gebärden ausgeführt werden, umso mehr unterstreichen und verstärken sie die Eigenschaft des Lautes. Insbesondere Kinder profitieren von den lautunterstützenden Gebärden. Sie haben großen Spaß an den Bewegungen und lernen so einen spielerischen Umgang mit den Lauten. Die Aufmerksamkeit wird gebündelt und auf die Tätigkeit gerichtet, sodass die Kinder sich leichter konzentrieren können. Durch die Berührungen am eigenen Körper nehmen sie sich besser wahr und kommen dadurch mehr zu sich und werden ruhiger. Aber auch bei Erwachsenen führen die lautunterstützenden Gebärden schnell zu einer kräftigeren und deutlicheren Artikulation.  
 

Einer der häufigsten Fehler, die beim Sprechen zu beobachten sind, ist das geräuschvolle nach Luft schnappen, meist in Verbindung mit viel zu lang gesprochenen Sätzen. Die Luft ist längst aufgebraucht und die letzten Silben können nur noch mühsam herausgepresst werden. Luftschnappen vor dem Sprechen führt zu einem erhöhten Stresspegel und dem Gefühl, zu wenig Luft zum Sprechen zu haben. In Wirklichkeit ist aber zu viel Luft vorhanden, die man nicht mehr los wird. Nach Coblenzer und Muhar sind schlechte Vorbilder und Überforderung zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr die Hauptursachen für diese Sprechweise. Horst Coblenzer war ein deutscher Schauspieler, Franz Muhar ein Lungenarzt, die gemeinsam viele Untersuchungen zur Sprache durchgeführt haben. Sie haben herausgefunden, dass unökonomisches Sprechen einen wesentlichen Anteil an der Entstehung vegetativer Störungen hat, wie zum Beispiel Konzentrationsmangel, Nervosität, Abgeschlagenheit, unbestimmte Herzbeschwerden und Kreislaufregulationsstörungen.  
 

Gerade hier könnte sich das ganze Potenzial der Sprachgestaltung in der Atemschulung der Lehrer:innen und Schüler:innen entfalten. 
 

Das staatliche Pendant zur Sprachgestaltung ist die Sprecherziehung, die in allen Bereichen zum Tragen kommt, in denen im beruflichen Kontext gesprochen wird – beispielsweise im Rundfunk, in Film und Fernsehen, im Theater, in der Kommunikation, in der Moderation, in der Lehrer:innenausbildung, also überall da, wo Stimme effektiv eingesetzt und das Sprechen aus der Alltagssprache herausgehoben werden muss.   
 

Die Sprachgestaltung besitzt mindestens dieselben Möglichkeiten wie die Sprecherziehung. Rudolf Steiner und Marie Steiner von Sievers haben an die hundert Übungen für die Sprachgestaltung entwickelt, um die Übenden in die Klang- und Lautempfindung der Vokale und Konsonanten zu führen und Atmung und Stimme zu schulen. Voraussetzungen hierfür sind Körper-, Bewegungs- und Haltungsarbeit. Denn zu einer guten Artikulation braucht es eine flexible, federnde, sogenannte «eutonische» Körperspannung. Zu viel Spannung wirkt verkrampfend auf die Atmung und die Muskulatur und diese Überspannung kann sich, wie schon erwähnt, in harten oder gequetschten Stimmen äußern. Zu wenig Spannung führt zu kraftlosen Lauten und erschlafften Stimmen.  
 

Eine gute Artikulation zeigt sich an deutlich und plastisch gebildeten Konsonanten und an klangvollen Vokalen. Die Atmung ist das Bindeglied. Sie umspielt und durchdringt die Laute, wirkt dynamisierend oder raumschaffend. Die Vokale sind die Empfindungsträger der Sprache und prägen den Klang einer Stimme. Die Konsonanten wiederum bilden das Gerüst, das Skelett der Sprache. Sie lassen sich ihrer Qualität nach in verschiedene Lautgruppen einordnen. Ich arbeite mit einem Model, das vier verschiedene Lautgruppen aufzeigt. Jede Lautgruppe hat ihre ganz spezifische Wirksamkeit, die die Sprache formt, dynamisiert, strömen oder leicht klingen lässt.  
 

Deshalb verwundert es mich sehr, dass eines der Alleinstellungsmerkmale an Waldorfschulen, die «Sprachgestaltung», an vielen Schulen gar nicht mehr existiert. 
Es war ein absoluter Pluspunkt der Waldorfschulen, so ein Augenmerk auf das gesprochene Wort zu richten, unvergleichlich in der Bildungslandschaft. An welchen Schulen werden Gedichte ab der ersten Klasse rezitiert? Aus meiner Schulzeit kenne ich nur die Gedichtanalyse im Deutschunterricht. Die Stilmittel habe ich nie hörend oder sprechend erleben dürfen. Sie wurden nur trocken auswendig gelernt.  
 

Woran liegt es, dass es keine Sprachgestaltung mehr gibt an Schulen?
Liegt es daran, dass es kaum noch Nachwuchs in dieser Kunst gibt?
Oder daran, dass viele, die mit Sprachgestaltung in Berührung kommen, sie als seltsam erleben?
Eingangs habe ich schon erwähnt, dass mein Gegenüber dieses vibrierende, volltönende Gewummere anstimmt, wenn klar ist, dass ich Sprachgestalter bin.
Die meisten Menschen empfinden die Artikulation und die Atmung bei Sprachgestalter:innen als etwas sehr Befremdendes. Sie können nicht nachvollziehen, warum da jemand so komisch spricht und Tonnen an Atem in unschuldige Laute donnert. Sprachgestalter:innen haben eine mehrjährige Ausbildung durchlaufen. In meinem Fall waren es dreieinhalb Jahre, in denen wir uns täglich über fünf bis acht Stunden unter anderem an Artikulations-, Geläufigkeits- und Atemübungen schulten. Irgendwann beherrscht man sein Handwerk und die Artikulation sitzt. Im Gegensatz zum Leistungssport, wo man immer noch weiter springen und noch schneller laufen kann, ist die Artikulationsfähigkeit in der Sprachgestaltung irgendwann zu einhundert Prozent erreicht. Ab diesem Moment darf man an das bewusste Artikulieren keinen Gedanken mehr verschwenden, sonst wirkt es einfach übertrieben und seltsam. Auch wirken oft Mimik und Gestik völlig überzogen. Ich glaube, das bringt unser Beruf mit sich. Dadurch, dass wir tagtäglich mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen arbeiten, die undeutlich, nuschelnd oder zu schnell sprechen, überkompensieren wir als Sprechvorbild. Mir ging das jedenfalls so und ein Blick in den Spiegel hat sich gelohnt, um zu sehen, ob ich beim Sprechen eigentlich noch natürlich aussehe. Auch Aufnahmen fand ich sehr hilfreich, um gegebenenfalls übermäßigen Artikulations- und Atemgewohnheiten entgegenzuwirken.
Ich habe den Verdacht, dass viele Kinder und Jugendliche sich fremdschämen und deshalb nicht so stark in die Sprache einsteigen, weil wir Sprachgestalter:innen oftmals albern aussehen und das, was wir sprechen, einfach zu komisch und pathetisch klingt. 
Sprachgestalter:innen werden oft als kraftvoll, forsch und direkt erlebt und beschrieben. Ich habe den Eindruck, dass das Eigenschaften sind, die in der Sprache nicht mehr so gut ankommen. Gerade bei jüngeren, cis-männlichen Personen erlebe ich über die Jahre mehr und mehr das Bedürfnis, sich zurückzunehmen, (stimmlich) nicht so viel Raum einzunehmen, aus Angst zu dominant, zu mächtig und zu autoritär zu sein.  
Ich finde das eine ganz spannende und neue Auseinandersetzung mit der Sprache beziehungsweise mit der Sprachgestaltung und ich erkunde viel mit den Studierenden zusammen, wann klingt denn Sprache schön und authentisch, wann berührt sie uns?  Es ist immer dann, wenn Form und Inhalt zusammenkommen. 


Ich habe 25 Jahre lang durchgehend als Sprachgestalter an Schulen mit Schüler:innen aller Altersstufen und mit Klassen- und Oberstufenlehrer:innen gearbeitet. Ich war als Sprechtrainer in großen Konzernen tätig und hatte an verschiedenen Universitäten Lehraufträge in «Sprecherziehung». Ich habe aber immer aus der Sprachgestaltung herausgearbeitet. Mein Ziel war es, Verbindung zu schaffen zwischen Körper und Stimme. Bewegung und Atem. Es war ein laufendes Ringen, wie ich die Menschen in den unterschiedlichen Kontexten abholen und erreichen kann. Ich musste mich und die Sprachgestaltung immer wieder neu erfinden. Als Berufsanfänger sollte ich mit einer Gruppe von vier jungen Männern arbeiten, die schon sehr viel von der Welt gesehen hatten und auch das ein oder andere Gefängnis von innen. Meine Aufgabe war es, mit ihnen Sprachgestaltung zu machen. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Also habe ich eine Fortbildung in Kampfkunst und Stabfechten gemacht und bin so mit ihnen in die Arbeit eingestiegen. Am Ende des Schuljahres haben sie eine kraftvolle Stabfechtperformance hingelegt und danach war es möglich, mit ihnen Gedichte zu erarbeiten und als Gruppe gemeinsam zu rezitieren. 


In diesen nun mehr 25 Jahren kann ich es an einer Hand abzählen, wenn sich ein Mensch nicht für die Sprachgestaltung begeistern ließ. Das heißt nicht, dass es immer Spaß machen muss. Im Gegenteil, es kann richtig weh tun, da unsere Persönlichkeit, unsere Stimmung, unser Befinden, unser Sein mit dem Sprechen verbunden sind. Sie lassen sich nicht davon trennen. Der erste Schritt in der Sprachgestaltung ist, das Hören lernen. Man muss sich selbst hören lernen, um etwas an dem eigenen Sprechen verändern oder nuanciert darauf zugreifen zu können. Es ist also im weitesten Sinne eine Wahrnehmungsschulung und Körperarbeit. Denn Sprechen findet nicht nur im Mund oder im Kopf statt. Sprache ist nicht nur Informationsvermittlerin. Der ganze Körper ist beteiligt. Die Körperhaltung, die Körperspannung, der Stand, die Atemmuskulatur – alles muss zusammenstimmen. Beim Singen ist das den meisten Menschen klar, dass sie aufrechter stehen, sich auf ihre Zwerchfell- und Flankenatmung besinnen und den Mund weiter öffnen müssen. Beim Sprechen oftmals nicht. 


Seit Mai 2021 unterrichte ich nun schon am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin. Ich habe diese Arbeit unter anderem deshalb angenommen, weil wir uns in unserer Kollegiumsarbeit viel mit den Themen Diversität, Rassismus und Dekolonialismus auseinandersetzen. Unser Kollegium ist dermaßen divers, dass wir multiperspektivische Blickwinkel auf diese Themen oder überhaupt auf Themen haben. Das bedeutete aber auch für mich, die Sprachgestaltung noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Kann man heutzutage noch guten Gewissens Märchen in der ersten Klasse erzählen? Natürlich handelt es sich bei König, Prinz und Prinzessin um Archetypen, die stellvertretend für seelische und geistige Prozesse in uns selbst stehen. Dennoch reproduzieren sie schlicht und ergreifend althergebrachte Geschlechterrollen und allen, die sich in dieser Binarität nicht verorten können, fehlen die Vorbilder. Und dennoch ist das Sprechen von Märchen unerlässlich, allein schon wegen der Stimmarbeit. Sie gehören zur literarischen Gattung der Epik und episches Sprechen lebt fast ausschließlich vom bildhaften Sprechen. Ins bildhafte Sprechen komme ich aber nur, wenn ich meinen Atem ausdehnen und in Bewegung bringen kann. Kann ich schlank und dynamisch sprechen, um einen Pfeilflug nachzuempfinden oder voll und kräftig, wenn ich von Eichen spreche. Kann ich Worte wie hüpfen, weinen, gierig, blass, Pflug oder Himmel so sprechen, dass sie genau das tun, was sie ausdrücken oder wofür sie stehen? 
 

Was ist mit der nordischen Mythologie in der vierten Klasse?


In der Sprachgestaltung wird hier der Stabreim erarbeitet an Versen aus der Edda, der alt-isländischen Göttersage. Ein recht patriarchaler, kriegerischer Götterkult. Ist das noch zeitgemäß? Oder die griechische Mythologie in der fünften Klasse? Zum Teil Gewalt verherrlichend und sexistisch.
Wenn ich mir aber anschaue, was die Atmung des Sprechenden im Stabreim und im Hexameter macht, dann werde ich auf alle Fälle sowohl den Stabreim als auch den Hexameter unterrichten. Die Studierenden erleben am eigenen Leib, wie sich die Atmung vertieft und im Körper abfedert, wie sie wach und warm werden, wenn sie den Stabreim sprechen und wie kräftig und voll ihre Stimmen plötzlich klingen. Beim Sprechen von Hexametern wiederum erleben sie unmittelbar, wie der Kopf Ruhe gibt und wie sich die Körpermitte weitet und es mehr Platz im Brustkorb gibt. Viele schildern, dass sie sich leichter und freier im Körper fühlen. 
 

Was ist mit all den klassischen Gedichten in der Unter- und Mittelstufe?


Auch hier können die Studierenden über die Sprachgestaltung erleben, wie stimmig die Gedichte bis in die Laute hinein aufgebaut sind und wie die jeweiligen Rhythmen sofort auf den eigenen Bewegungsmenschen wirken.  


Aus meiner Arbeit heraus kann ich nur sagen, dass die Sprachgestaltung mehr denn je gebraucht wird und brandaktuell ist. Mit Hilfe der Sprachgestaltung können wir der Entstehung vegetativer Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vorbeugen, Sinn für Schönheit und Ästhetik in der Sprache und im Sprechen wecken, Wahrnehmung, Achtsamkeit und Empfindsamkeit schulen und die Menschen wieder mehr an den Körper anbinden und sowohl physisch als auch seelisch-geistig in Bewegung bringen.  


Also, liebe Schulen, holt euch die Sprachgestaltung zurück in die Schulen! Und liebe Studierende, werdet Sprachgestalter:innen!

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