Ein festlich gestimmter Lehrer oben auf der Bühne. 36 Kinder, die nacheinander die Stufen emporsteigen, um durchs Blumentor zu gehen, liebevoll begrüßt und an ihren Platz gebracht zu werden. Wie erstaunlich kräftig ein eher kleiner und zarter Junge ausschreitet und selbstsicher die Bühne betritt. Eher zögerlich das nächste Kind, wie tastend jeder Schritt, als fragte es: Ist es richtig so? Ein Mädchen hüpft fast herauf, ihre Munterkeit entlockt allen ein Lächeln. Ein anderes Kind benötigt noch elterliche Begleitung, macht nichts! Es sind Bilder, die sich einprägen, die etwas aussagen. 36 Kinder, 36 Schicksale, 36 Lebenswege …
Dann erklingt das Lied. Wir kennen es: »Wir haben ein goldenes Band. Das geht von Hand zu Hand.« Welch ein schönes Bild für die werdende Klassengemeinschaft. Jeder ist mit jedem verbunden, alle Kinder untereinander, der Lehrer mit jedem einzelnen Kind. Das Schicksal jedes Kindes trägt er mit. So weit, so gut. Aber das Lied geht ja noch weiter: »Es kommt vom blauen Himmelszelt, wo Gott die funkelnden Sterne hält.« Auch ein schönes Bild. Aber wer nimmt dieses Bild noch ebenso ernst, wie das der Gemeinschaft? Wer erblickt in diesem Bild noch etwas, das auf eine Realität hinweist? Auf eine Wirklichkeit, die helfend, schützend, impulsierend hinter dieser Gemeinschaft steht? Die in stetiger Bereitschaft da ist, jeden Einzelnen zu begleiten und zu stärken in den Prüfungen, die da möglicherweise kommen. Die wir benötigen, damit wir unser Lebensschiff sicher steuern können und in den Stürmen des Lebens nicht die Richtung verlieren. Es ist jedoch an uns, diesen Kräften die Tür zu öffnen. Sonst wären wir nicht frei. Dieses »goldene Band« zu pflegen und bewusst zu bilden, ist eine Kernaufgabe der Waldorflehrerinnen und -lehrer. Im ersten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde heißt es: »… wir wollen uns bewusstwerden, dass das physische Dasein hier eine Fortsetzung des geistigen ist, dass wir durch Erziehung fortzusetzen haben dasjenige, was ohne unser Zutun besorgt worden ist von höheren Wesen. Das wird unserem Erziehungs- und Unterrichtswesen allein die richtige Stimmung geben, wenn wir uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.« Man kann sich auf diesen Gedanken täglich mit Ernsthaftigkeit und Liebe besinnen und im Lichte dieses Gedankens jedes Kind ins Bewusstsein nehmen. Dann werden wir die verschiedenen Individualitäten in der Klasse tiefer verstehen und erkennen, was sie benötigen. Weil wir in unserer Suche danach nicht allein sind. Dann fließen uns neue Kräfte und reiche Ideen für den Unterricht zu. Das gilt bis in die Oberstufe. Am Ende der Schulzeit geht die Frage nach dem Verhältnis zu dieser Realität dann ganz auf die Schülerinnen und Schüler über. In Freiheit finden sie ihren eigenen Weg und manch einer erinnert sich vielleicht an das goldene Band.
Friederike Kenneweg ist Klassenlehrerin (z.Zt. im Freijahr), Mediatorin sowie Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen.