Arthur Schopenhauer vertrat in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung die Auffassung, «dass aus dem Kunstwerk die Idee uns leichter entgegentritt als aus der Natur und der Wirklichkeit». In den bildenden Künsten und der Dichtung sieht der Philosoph die «unmittelbar stoffliche Verkörperung der Ideen». Die Musik nimmt seiner Auffassung nach eine Sonderstellung ein, denn für sie gebe es kein natürliches Vorbild. «Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind [...] Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen». An späterer Stelle fährt er fort: «Die Pulsschläge der göttlichen Tonkunst haben nicht aufgehört zu schlagen [...] und ein unmittelbarer Widerhall des Ewigen ist uns in ihr geblieben».
In der Musik manifestieren sich demnach objektive Gesetze, Ideen der Schöpfung. Goethe beschreibt es im Faust, wie dem Menschen als Teil der Schöpfung die Fähigkeit verliehen ist, Musik im Pendelschlag mit den Himmelskräften, die auf- und niedersteigen in die Sinneswelt hineinzutragen.
Die Sprache des Menschen und Musik als Sprache
Der Mensch erwirbt sich Sprache stufenweise. Sie tritt anfänglich als soziale Interaktion in Erscheinung und entwickelt sich über die Stufe der Information und Mitteilung zum Ausdruck individueller Selbst- und Welterkenntnis. Sie kann aber auch überpersönliche Inhalte ausdrücken, so jedenfalls fasst das Johannes-Evangelium sie auf, in dessen Prolog es heißt: «Im Urbeginne war das Wort, [...] durch es sind alle Dinge geworden, und nichts von allem Entstandenen ist anders als durch das Wort geworden».
In der Sprache der Musik verbindet sich stets Persönliches mit Überpersönlichem. Schöpferische Musiker:innen oder Komponist:innen geben ihr eine individuelle Form. Während die Sprache des Menschen von der sozialen Interaktion zur Selbst- und Welterkenntnis lebt, verhält es sich mit der Musik als Sprache umgekehrt. Der Schaffende stellt im Prozess der Werkentstehung die Parameter der Musik in singuläre und essenzielle Zusammenhänge und beschreitet somit einen Weg von Übergeordnetem zu Persönlichem. Musik wird von Kindern ebenso verstanden wie von Erwachsenen. Darüber hinaus ist sie ihrem Wesen nach eine internationale und völkerverbindende Sprache (Mozart wird auch in Japan gehört, erlebt und verstanden). Sie ist dem Menschen eingeboren und kann von daher – mit den Worten des deutschen Schriftstellers Karl Julius Weber – als «die wahre allgemeine Menschensprache» bezeichnet werden.
Das Hören
Ohne Hören kein Sprechen. Das Hören geht dem Sprechen sogar voraus. «Langjährige Studien des Hörforschers Alfred Tomatis haben belegt, dass der menschliche Embryo schon in den ersten Monaten Vorformen des Hörens entwickelt. Bereits eine Woche nach der Befruchtung sind mikroskopisch kleine Ansätze eines Ohres zu erkennen. Das Ohr ist eines der ersten Sinnesorgane, das vollständig funktionsfähig ist und über welches das menschliche Wesen mit seiner Umgebung in Kontakt tritt». In einem erstaunlich frühen Stadium also ist der Mensch für akustische Reize und Einflüsse empfänglich. Sie stellen sich verschiedenartig dar. Tagtäglich begleitet uns eine akustische Kulisse durch Radio, CD, Film, Fernsehen, Video oder die technischen Geräusche der Umgebung. Häufig genug müssen wir hören, was wir gar nicht hören wollen.
Beim Musizieren wird das Hörenwollen aktiviert. Das Hinhören, das aus einer bewussten, freien Entscheidung entsteht. Und, so Hans-Werner Schroeder: «Hinhören heißt doch, nicht nur hören, sondern im Hören sich innerlich hinbewegen können zu dem Gehörten, eine seelische Bewegung ausführen. Die uns feiner, tiefer, innerlicher mit dem verbindet, was wir hören. Ja, man kann sich sogar hineinhören in etwas. Wie wichtig diese Seelenfähigkeit für alles menschliche Begegnen ist, braucht kaum betont zu werden. Wie stark sie heute im Übermaß des Hörenmüssens, ja in der Abwehr gegenüber der fast lückenlosen Geräuschkulisse in Mitleidenschaft gezogen wird, kann jeder selbst an sich und an anderen, besonders an Kindern beobachten». Was aber setzt das so verstandene Hören voraus? Stille, aktives Schweigen. Die Musik «macht hörendes Schweigen möglich – hörend nicht allein auf Klang und Melodie [...] Nein, weit darüber hinaus, wird durch die Musik ein größer [sic] dimensionierter Raum der Stille aufgetan, worin, wenn es mit glücklichen Dingen zugeht, dann eine Wirklichkeit vernehmlich werden mag, die höheren Ranges ist als die Musik», so Josef Pieper.
Kriterien des Übens
Beim Musizieren kommen drei Elemente zusammen: Musik, Interpret:in und Instrument. Der Kernpunkt des Musizierens ist das Üben. Das Üben am Instrument ist eine Betätigung, bei der der Mensch mit seinem ganzen Wesen beteiligt ist: körperlich, seelisch und geistig. Es ergeben sich beim Üben zwar Gewichtungen, aber immer handelt es sich um einen Zusammenfluss gedanklicher, fühlender und willentlicher Ausübung. Ziel des Übens ist die möglichste Annäherung an das «künstlerische Bild», als welches es Heinrich Neuhaus bezeichnet, an die Vorstellung der Musik, die Musik selbst. Diese über allem Musizieren stehende Aufgabe beinhaltet Prinzipien, die zugleich allgemein-menschliche, seelische Qualitäten fordert bzw. fördert.
Üben reflexiert das eigene Tun
Übend Musizierende vollziehen ihr Tun bewusst. So selbstverständlich das zunächst erscheinen mag, gehen damit doch bestimmte Maßgaben einher: Ausübende stehen – als Schaffende und Hörende – fortwährend in einem durch die Musik bestimmten Spannungsverhältnis, das zur steten Bereitschaft der genauen Beobachtung, Konzentration, Geduld und Präzision, also zur Selbstprüfung und -korrektur aufruft. Ein selbsterzieherischer Prozess!
Üben setzt soziale Kräfte frei
Über die selbsterzieherischen Aufgaben hinaus können beim übenden Musizieren soziale Kräftespiele augenscheinlich werden, denn die Musik weist verschiedene Bestandteile auf: Melodie, Harmonie, Rhythmus, Form. Ihr Zusammenwirken bestimmt das jeweilige Wesen eines Musikwerks. Sinngebender Ausdruck ihres Zusammenspiels ist das Musizieren (und damit auch das Üben). Ausübende erscheinen also als sozial Schaffende im Geflecht von Melodie, Harmonie, Rhythmus und Form. Eine andere, noch konkretere Ebene sozialer Interaktionen betreten die Musizierenden beim kammermusikalischen oder gar orchestralen Zusammenspiel, bei dem stets durch das Zusammenwirken neue Einheiten entstehen.
Seelenbildende Kräfte
Leo N. Tolstoi äußerte einmal: «Die Musik ist die Stenographie des Gefühls.» Musik gibt Befindlichkeiten des Gefühls «auf engem Raum» wieder, so könnte man Tolstoi verstehen. Und mit dem Gefühl wird der seelische Bereich des Menschen angesprochen, Grundbefindlichkeiten allgemeingültiger und -verständlicher Natur, wie zum Beispiel Freude, Heiterkeit, Trauer, Schmerz, also eine durch die Musik verobjektivierte Gefühlsskala mit- und nachvollziehbarer sowie selbst erfahrbarer seelischer Eigenschaften. Eine Schulung und Läuterung der Gefühlserlebnisse! Durch sie kann eine Weisung, Festigung und Kräftigung des Seelischen erübt werden.
Und so lässt sich auch verstehen, wenn der Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus schreibt, dass es die Aufgabe des Musizierenden sei, den/die Hörer:in dazu zu veranlassen, «das Leben stärker zu lieben, intensiver zu fühlen, heftiger zu wünschen, besser zu verstehen».
Literatur: Walter Abendroth: Arthur Schopenhauer, Hamburg 1967. | Emil Bock: Johannes-Evangelium, Stuttgart 1980. | Bruno Walter: Von der Musik und vom Musizieren, Frankfurt 1957. | Martin Gellrich: Zeitschrift für Musik und Eltern (Muttersprache Musik), Regensburg, 1992, Heft 1. | Hans-Werner Schroeder: Das Gebet, Stuttgart 1977. | Josef Pieper: Buchstabier-Übungen, München 1980. | Heinrich Neuhaus: Die Kunst des Klavierspiels, Köln 1967.
Dominikus Burghardt, * 1965, Musiklehrer an der FWS Würzburg, kooptierter Leiter sowie Dozent des Pädagogischen Seminars für Waldorfpädagogik Nürnberg. 28 Jahre Dozent an verschiedenen Musikhochschulen und Universitäten. Leiter des Ratinger Kammerchors. Freie Konzerttätigkeit als Liedbegleiter. Kontakt: burghardt@waldorf-wuerzburg.de
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