Das Märchen vom Polarstern

Dagobert Ossa

Die Kinder der zweiten und dritten Klasse der Frankfurter Waldorfschule blicken gespannt auf die Frau im Sari, die vor ihnen steht und eine Geschichte erzählt. Fasziniert verfolgen sie die Gesten ihrer Hände. Allerlei Tiere – Elefanten, Schlangen und Vögel – bevölkern das Märchen vom Polarstern. Begleitet von Flötenspiel ahmen die Kinder unmittelbar ihre Gebärden nach. Die Lehrerin aus diesem fernen Land ist Aban Bana aus Mumbai. Fasziniert sind nicht nur die Kinder. Zur gleichen Zeit in derselben Stadt weilen zwei buddhistische Mönche im Tempel »Buddhas Weisheit«. Einer von ihnen, der Ehrwürdige Bhante Punnaratana, lebt seit mehreren Jahren in Deutschland. Er kümmert sich um die Schulbildung armer Kinder und organisiert Reisen nach Sri Lanka, um dort persönlich eine Verbindung zu den Kindern und deren Familien herzustellen.

Wie kam es zu diesem Kontakt?

Seit dem dritten Lebensjahr lebt der kleine Mönch Hue Bao im Tempel »Buddhas Weisheit«. Vor etwa vier Jahren wurde er schulpflichtig, und da das Leben in einer buddhistischen Pagode mit dem Schulalltag in Einklang zu bringen war, entschied sich der Abt der buddhistischen Gemeinde, Thich Thien Son, für die Lernmethode der Waldorfpädagogik. Seit drei Jahren nun besucht Hue Bao die Frankfurter Waldorfschule, gekleidet in seiner Kutte, und wohl der erste Mönch an einer Waldorfschule in Deutschland.

Durch die Bekanntschaft mit Aban Bana kommt es zu einem Treffen der beiden Mönche an der Frankfurter Waldorfschule. Was sie bei der Aufführung und beim anschließenden Schulrundgang an den Kindern erleben, begeistert sie für die Waldorfpädagogik und für die Eurythmie. Man vereinbart ein Seminar für das kommende Jahr in Sri Lanka – eher bekannt als beliebtes Touristenziel und für seine Ayurveda-Kuren. Der Krieg zwischen Singhalesen und Tamilen erschweren die Vorbereitungen.

Warum Waldorfpädagogik in Sri Lanka?

Viele Kinder in Sri Lanka möchten gerne zur Schule gehen, können es aber nicht. Zwar ist die Schulausbildung kostenlos, doch müssen die Eltern die vorgeschriebene Schuluniform, die Schuhe, Schulbücher, Papier und Schreibmaterial selbst kaufen. Die meisten Eltern haben hierfür kein Geld. Schon gar nicht, wenn sie mehrere Kinder haben. Können die Kinder zur Schule gehen, so müssen sie morgens sehr früh aufstehen, denn der Schulweg dauert nicht selten über eine Stunde zu Fuß. Die Kinder fangen schon mit vier Jahren an, die 52 Buchstaben zu lernen und das Lernpensum ist hoch.

Polonnaruwa ist die ehemalige Hauptstadt zweier Königreiche. Hier findet das Seminar statt, an dem 150 Lehrerinnen teilnehmen. Aban Bana gibt einen Einblick in die Theorie und Praxis der Waldorfpädagogik, die Entwicklungsschritte des heranwachsenden Kindes, Formenzeichnen und Malen. Danach übt ihre Schwester Dilnawaz Bana im Hof Eurythmie, deren Bewegungen anmutig von den Frauen in ihren wundervollen Saris nachverfolgt werden. Alle zeigen Dankbarkeit und Freude über das gelungene Seminar. Die Kinder haben Blumenkränze geflochten und Tänze einstudiert. Die Teilnehmer äußern den Wunsch, mehr über die Pädagogik Rudolf Steiners zu erfahren. Für das nächste Jahr wird es in Khandala einen Folgekurs geben.

Eigentlich hat dieses Land alles, was man zum Leben braucht, und trotzdem benötigen die Menschen gezielte Hilfe in der Ausbildung von Pädagogen. Auch ein Austausch von Waldorfschülern aus Deutschland und Schülern aus Sri Lanka wäre wünschenswert.

Die Weisheit kommt von den Sternen

Im Norden Indiens, unweit der Schneeberge, wurde in einem Könighaus ein Sohn geboren. Er spielte immer gerne im Park und konnte mit den Tieren sprechen. Er fragte sie, wo er das große Licht finden könnte, aber sie sagten, dass sie es nicht

wissen und er es doch einmal im Wald suchen sollte. Seine Mutter begleitete ihn die ersten Tage und Nächte. So ging er zum Fluss und fragte die Fische, die es auch nicht wussten. Er traf den Bären und fragte ihn nach dem ewigen Licht, auch er konnte ihm nicht helfen. So fragte er die Schlange, die Rehe und Hasen, aber niemand konnte ihm sagen, wo er das große Licht finden könne.

Eines Tages traf er einen Einsiedler und fragte ihn nach dem großen Licht. Der alte Mann sagte ihm, dass alle Menschen das große Licht selbst suchen müssen.

So ging er weiter und als er müde war, legte er sich unter einen großen Baum und träumte. Da sagte ihm eine Stimme in der Stille: Er soll einmal nach oben schauen. Über ihm strahlte der Nordstern. So erfuhr der Königsohn, dass die Weisheit von den Sternen kommt.