Die 7. Klasse spielte eine Woche lang, von 8 bis 12 Uhr, das von John Hunter entwickelte World-Peace-Game. Im Klassenzimmer waren die Tische ausgeräumt und das mehrstöckige Spielbrett in der Mitte aufgebaut. Spielleiterin war Christiane Leiste, die sich an unserer Schule um die Förderung von Flüchtlingskindern kümmert und die bei John Hunter verschiedene Master Classes besuchte und das Zertifikat erworben hat, dieses Spiel anleiten zu dürfen.
Der komplette erste Tag diente der Einführung in das Spiel, das »gewonnen« wird, wenn erstens am Ende der Woche alle vertretenen Nationen in ihrem Budget nicht unter dem Betrag liegen, mit dem sie begonnen haben, und wenn zweitens alle im Verlauf des Spieles auftauchenden Krisen gelöst sind. Diese Krisen können aber nur gelöst werden, wenn die Teams gut zusammenarbeiten und wenn untereinander gut kooperiert wird. Einerseits ist das Spiel so angelegt, dass es ist, wie im »echten Leben«: Es gibt Kriege, Feindschaften, Klimakatastrophen, flüchtende Menschen, Naturkatastrophen, Saboteure, geheime und gemeine Machenschaften. Es gibt Institutionen wie die Weltbank, einen Weltgerichtshof, die UNO, aber auch eine Allianz der Waffenhändler. Insofern sah man auf den Spielbrettern auch Panzer und Soldaten, Militärflugzeuge und im Weltraum gab es sogar Killersatelliten. Andererseits wird genau unter solchen Voraussetzungen kooperative und problemlösende Arbeit gefordert.
Im Verlauf des zweiten Spieltages wurden die Gruppen eingeteilt. Vier verschiedene Nationen fanden ihre Präsidenten, ihre Außen- und Finanzminister. Offizielle Aufgaben wurden für die genannten Institutionen vergeben. Schließlich fand sich auch schnell ein Presse-Team, das über den aktuellen Spielstand, überwundene Krisen oder fiese Anschläge des Saboteurs oder der Präsidentin des Geheimen Imperiums berichtete. Meist vier Kinder arbeiteten in einem Team zusammen. Die vier Länder wurden FPL (Fair Peace Land), Green Island, Yellowland und Calandien genannt. Eine Wettergöttin war für Zufallsentscheidungen zuständig und drehte immer wieder am Rad des Schicksals. Der Verlauf des Spieles wurde von immer neuen bedrohlichen Szenarien (zum Beispiel der Saboteur droht Atomraketen auf eine Insel zu schießen) vorwärtsgetrieben, die sich aus einem »Geheimen Dossier« ergaben. Phasen, in welchen die Nationen und Organisationen teils sehr leidenschaftlich verhandelten oder Geschäfte in Milliardenhöhe abschlossen und offizielle Deklarationen mit sehr formellem Auftreten der Regierungschefs und Delegationen wechselten einander ab. Es gab einen geschickten Saboteur, also einen Schüler, der diese Aufgabe heimlich bekommen hatte und sie durch heimliche Kommunikation mit der Spielleiterin ausübte. Weil ihn die Klasse trotz vieler Verdächtigungen und einiger Anklagen nicht enttarnen konnte, wurde das Spiel erst kurz vor Schluss gewonnen.
Spielerisch sollen die Kinder durch dieses Projekt in die Denkweisen der Weltpolitik eingeführt werden und Kooperationsformen entwickeln und üben, die zum Frieden führen. In den Reflexionsbögen der Kinder war unter anderem zu lesen: »Am Anfang hatte ich das Gefühl, wir würden im Chaos versinken. Aber von Tag zu Tag wurde es besser. Bis es dann am Ende klappte.« Oder: »Man hat gelernt, besser nachzudenken, bevor man etwas Wichtiges entscheidet.« – »Das Verhandeln war der Punkt.« – »Ich habe gelernt, keine Entscheidungen voreilig zu treffen und nicht zu stur in Entscheidungen zu sein.« – »Ein guter Verhandlungspartner kann sich die Meinungen von anderen anhören und sie mit einbeziehen.« – »Ich fand es sehr gut, dass man in die Rolle von den richtigen Regierungen versetzt wurde.« – »Es hat sich einfach total gut entwickelt. Ich finde es einfach gut für die Zukunft!«
In der Tat hatten sich die Kinder über die Woche hin engagiert in die anspruchsvollen Aufgabenstellungen eingearbeitet. Diese stellten eine Überforderung dar mit der Absicht, die Eigenständigkeit, Verantwortlichkeit und den Kooperationsgeist auf den Plan zu rufen. Eine Fülle von Ritualen, beispielsweise wurden offizielle Erklärungen immer mit den selben Formeln eingeleitet, ermöglichte den Kindern darüber hinaus, in »echte« Regierungsrollen einzusteigen. Einige Kinder, die in »verantwortungsvollen« Positionen ordentlich zu tun hatten, blühten richtiggehend auf und zeigten strategisches Denken oder humanitäres Engagement, wie wir es im Schulalltag so nicht erleben können. Es gab keinerlei Art von Belehrung. Die Kinder hatten schlicht auf ihre Ressourcen zurückzugreifen und sich herausfordernden Situationen zu stellen. Darin lag für manches Kind wohl auch das Beglückende, das es in dieser Woche erlebt hat.
Zum Autor: Ulrich Kaiser ist Klassenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg Bergstedt.