Initiator und Projektleiter des Faust-Festivals Klaus Weißinger, Oberstufenlehrer für Deutsch und Geographie an der Rudolf-Steiner-Schule Ismaning, bediente sich in seiner kurzen Ansprache zur Eröffnung des Festivals eines Bildes: Würde man die bedeutenden Dichtungen in »Berge« einteilen, Goethes »Faust« wäre sicherlich einer der großen Achttausender. Diesen zu erklimmen, sei die Aufgabe und das Experiment des Festivals. Routenverlauf und Ausblicke waren zu Beginn der Woche noch offen. Eine Expedition mit ungewissem Ausgang, angesichts der Komplexität und thematischen Vielfalt, der Vielschichtigkeit und des sprachlichen Anspruchs dieses Monumentalwerks.
Die Idee, den »Faust« als Zwölftklass-Spiel ungekürzt auf die Bühne zu bringen, ist für eine einzelne Schule unmöglich umzusetzen. Aber für sechs zwölfte Klassen vielleicht doch? Kann man die Schüler dafür begeistern? Nach langen Gesprächen mit Spielleitern, einer engagierten Ismaninger Elterngruppe und dem Kollegium fiel der Entschluss, es zu wagen. Sechs elfte Klassen – von den Waldorfschulen Erftstadt, Halle/Saale, Ismaning, Hildesheim, Walhausen (Saar-Hunsrück) und Wendelstein – ließen sich auf das Abenteuer ein. Wer welchen Part spielen sollte, wurde ausgelost.
Der »Faust« ist hochaktuell
Schuld und Schulden, Krieg und Tod, Künste und Wissenschaft, Liebe und Lust, Macht und Verantwortung – kaum ein Aspekt menschlichen Daseins und geistiger Sinnsuche, den Goethe in diesem Stück nicht aufgreift. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen fiel den Schülern anfangs nicht leicht. Doch je intensiver die 17-, 18-Jährigen sich einarbeiteten und probten, verblüffte sie dieser Goethe: »Erst im Spiel fällt einem auf, was er eigentlich sagt mit seiner Dichtung«, findet Julia. Kilian ergänzt: »Faust besitzt ja schon die ganze Welt, will dann auch noch den letzten Rest und vertreibt so die Menschen.« Mirko bringt es auf den Punkt: »Faust ist die Personifikation des modernen Menschen und niemand von uns ist in der Lage, allen Verlockungen zu widerstehen, welcher Art sie auch seien.«
Lehrer und Spielleiter sind sich in ihrem Resümee einig: Die Neugier der Schüler auf die Auseinandersetzung mit ihrem Akt und auf die Arbeit der anderen Klassen war groß. Die gespannte Erwartung und Festival-Vorfreude drückten sich in engagierter und konzentrierter Vorbereitung aus.
Gemeinsam etwas Einzigartiges schaffen
Das Faust-Festival verlangte den beteiligten Schulgemeinschaften, Eltern und Kollegien viel ab. Es entstanden Zusatzkosten, zum Beispiel für die Reisen, für Unterbringung und Logistik. Kartenkontrolle, Küchendienst, Buffetbetreuung, Parkplatzeinweisung, Bühnen- und Lichttechnik, Garderobe – viele organisatorische Fragen mussten geklärt werden, die bei einem »Heimspiel« gar nicht erst auftauchen. Zusätzlich zum normalen Unterricht und der »Faust-Epoche« in einer zwölften Klasse kamen die Proben, das Lernen der Texte, das Schneidern von Kostümen und Bauen der Bühnenbilder. »Am Anfang war es das reine Chaos, aber im Lauf der Arbeit am Stück wächst die Klasse immer mehr zusammen, es ist eben ein gemeinsames Schaffen«, formuliert es eine Gretchen-Darstellerin. Die anderen pflichten bei: »Klar, waren die Proben dieses Mal besonders aufwändig. Wir wussten ja bis zur Ankunft in Ismaning gar nicht so genau, wie der Saal aussieht, wie die Akustik sein würde, die ganzen Abläufe vor und nach den Aufführungen. Aber das Gemeinsame bei so einem Projekt motiviert doch ungemein. Wir sind stolz, so ein Stück auf die Bühne gebracht zu haben«, ergänzt einer der Mephisto-Darsteller.
Für Klaus Weißinger war das Zusammenwachsen, das gemeinsame Schaffen und Erleben das zentrale Motiv für dieses Projekt, an dem sich mehr als 150 Schüler beteiligten. Es war erstaunlich, wie achtsam und in welcher liebevollen Wahrnehmung sie miteinander umgingen – und auch konstruktive Kritik aneinander übten. Ein Schüler bestätigt: »Alles in allem waren die nervenaufreibenden Vorbereitungen trotz aller Diskussionen und oft gefühltem Stillstand eine Bereicherung. Wir akzeptieren uns selbst noch einmal mehr, sind trotz der elf Jahre, die wir als Klassengemeinschaft schon auf dem Buckel haben, nochmals ein Stück näher zusammen gerückt.« Eine Mitschülerin ergänzt: »Und dann endlich die Leute besser kennen zu lernen, mit denen man vorher schon gemeinsam am Crowdfunding-Projekt oder hier in Ismaning in Workshops gearbeitet hat, das ist einfach toll.«
Ein Feuerwerk an Fülle und Vielfalt
Die zwölf Vorstellungen waren meist ausverkauft. Im Rahmenprogramm fanden Workshops, täglich stattfindende Gesprächsgruppen und Vorträge statt. Im Laufe der Woche entstand so ein echtes »Festival-Feeling«. Die Zuschauer erlebten den »Anfang eines Kulturimpulses«, wie »Faust«-Kenner und Workshopleiter Alfred Kon es ausdrückte. Man konnte mitverfolgen, wie sich auf der Bühne anfängliche Neugierde in echte Spielfreude verwandelte. Der Ideenreichtum und das schauspielerische Können der Zwölftklässler – sei es im Team oder als einzelne Darsteller – begeisterte das Publikum. Gioia Falk, die künstlerische Leiterin der Mysteriendramen Rudolf Steiners am Goetheanum, die Teile des Begleitprogramms und die täglichen Einführungen in den jeweils gespielten Akt übernommen hatte, spricht aus, was Besucher und Teilnehmer spüren konnten: »Wir stehen in Bewunderung vor der Kunst der Zwölftklässler, vor ihrem künstlerischen Können.«
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Zur Autorin: Claudia Ressel ist Öffentlichkeitsarbeiterin an der Freien Waldorfschule Ismaning