»Den Göttern gleich ich ...« – oder nicht? Das Drama des dritten Jahrsiebts

Mona Doosry

Verabschiedung von einer neunten Klasse nach dem Hauptunterricht: Ein Junge hebt eine Brottüte an den Mund; noch bevor er in Erwartung eines lauten Knalls zuschlagen kann, rufe ich: »Lennart!« Er hält inne und sagt: »Das war ich nicht!«

Gespräch mit einer Zwölftklässlerin: Es geht um die Organisation ihres Alltags im Hinblick auf die schulischen Aufgaben; dabei wird deutlich, welche Ansprüche sie an sich hat, aber auch, wie schwer es ihr fällt, diese Vorstellungen umzusetzen, angesichts all dessen, was sie außerdem noch tun möchte.

Diese beiden Beispiele verdeutlichen, um welchen Rahmen es geht, wenn man vom dritten Jahrsiebt spricht.

Da ereignet sich zu Beginn dieses Zeitabschnitts etwas, was Rudolf Steiner als »Geburt des Astralleibes« bezeichnet, ein Freiwerden seelischer Kräfte, die sich ganz unmittelbar ausdrücken – als Gefühle, Willensregungen, Sehnsüchte, Empfindungsurteile. Dass sich das Seelenleben verselbstständigt, ohne dass das Ich regulierend eingreifen kann, zeigen das eingangs angeführte Beispiel und andere Beobachtungen: Einige Mädchen fangen grundlos an zu kichern und können nicht wieder aufhören. Das spontane Urteil über eine im Kunstunterricht gezeigte griechische Statue lautet: »Igitt, der hat ja so breite Hüften!«

Die Ich-Geburt steht an

Am Ende dieses Lebensalters steht die sogenannte Ich-Geburt. Das Ich ermöglicht es dem jungen Menschen, ganz aus eigenen Kräften heraus zu handeln, »der Welt gegenüber zu stehen und selber an der Ausbildung der Seele zu arbeiten« (Steiner).

Das oben geschilderte Gespräch mit der Zwölftklässlerin, in dem sie um eine individuelle, selbstbestimmte Lebens­führung ringt, macht deutlich, dass die Ich-Geburt bevor­steht. Die Entwicklung der Jugendlichen im dritten Lebens­jahrsiebt drückt sich unter anderem in einem Lebensgefühl aus, das sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt, zwischen dem, was sie bisher ge­­worden sind, und dem, was sie werden wollen.

Um diese Entwicklung zu verstehen, ist eine Auffassung von Vergangenheit und Zukunft nötig, die weit über die biographischen Aspekte hinausgeht: Das ist die Anschauung von Wiedergeburt und Karma. Wir haben es demnach mit Individualitäten zu tun, die vergangene Inkarnationen durchlebt und mit ihrem Handeln die jetzige vorbereitet haben, ebenso wie sie in diesem Leben den Grundstein für weitere Inkarnationen legen. Eine weitere Voraussetzung ist, dass einzelne Entwicklungsphasen zwar einem bestimmten Lebensalter zugeordnet werden können, bei dem einen oder anderen aber früher oder später auftreten.

Noch nicht objektiv, aber durchdrungen von Idealen

Blicken wir zunächst auf das, was uns in einer neunten Klasse entgegenkommt. Die Jugendlichen sind nicht nur den skizzierten seelischen Regungen ausgeliefert, sie zeigen auch eine große Empfänglichkeit für Ideale. Viele Schüler merken im alltäglichen Getriebe des Unterrichts plötzlich auf, wenn von Freiheit, Menschenwürde oder Gerechtigkeit die Rede ist; sie bewerten das Handeln der Erwachsenen nach absoluten moralischen Maßstäben. So war eine Neuntklässlerin nach einem Vortrag des Abenteurers und Überlebenskünstlers Rüdiger Nehberg beeindruckt davon, dass er nicht nur von seinen Idealen spreche, sondern diese auch mit aller Konsequenz lebe. Einer in ihren Augen ungerechten Maßnahme des Lehrers begegnen die Jugendlichen mit Empörung oder Protest, manchmal aber auch mit Humor.

Diese unmittelbar erlebbare Kraft der Ideale hängt nach Steiner mit dem vorgeburtlichen Dasein des Menschen zusammen: Der Jugendliche sei zwar noch nicht in der Lage, die äußere Welt in einer objektiven Weise zu beobachten. Aber er trete der Welt mit Idealismus entgegen, mit »Hoffnung für das Leben«, auch wenn dieses Leben in Widerspruch mit der Realität stehe. Steiner sieht in diesen Jugendidealen Erinnerungen aus früheren Leben aufblitzen.

Wenn das eigene Schicksal an die Tür pocht

In der zehnten Klasse sieht sich die jugendliche Seele bewusster in das Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft hineingestellt. Alte Freundschaften zerbrechen, die Kindheitskräfte tragen nicht mehr und die bis dahin zur Verfügung stehenden Fertigkeiten und Fähigkeiten reichen nicht mehr aus. Das Neue und ganz Eigene wird zwar erahnt, ist aber nicht wirklich greifbar. Die Poetik-Epoche bietet Raum, dieses Lebensgefühl bildhaft zum Ausdruck zu bringen:

Plötzliche Veränderung
Du tastest dich voran
Du erschrickst über deine Vorsicht
Dein Halt Vergangenheit
Dein Leben Vergangenheit
Ein wackeliges Gerüst …

... so schreibt eine Schülerin in einem Gedicht und:

Weg der
unbeschriebenen Blätter
die Tage von Morgen …

... ein anderer. Innerer Rückzug und radikale Abwehr herkömmlicher Werte, Einsamkeitserlebnisse und seelische Krisen bis hin zu Selbstmordgedanken, können Folge dieses Lebensgefühls sein, die allerdings bewältigt werden, wenn der Faden zur Welt der Ideale noch nicht gerissen ist.

Auffällig ist, dass die eigene seelische Situation stärker reflektiert wird als bisher. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung des Ich-Bewusstseins, das im dritten und zehnten Lebensjahr in anderen Formen zum Ausdruck kam, deutet sich hier an. Mit der Geschlechtsreife bildet sich ein geistig-seelisches Organ, »in das sich von nun an alle Ideen, Absichten und Taten des Menschen einschreiben und mit in das Nachtodliche genommen werden«, führt Steiner aus. In der jugendlichen Seele mag sich dies als Ahnung äußern, dass von nun an das eigene Schicksal beginnt, die eigenen Handlungen von Bedeutung für die Welt, die Mitmenschen, die eigene Biographie sein werden. Nicht von ungefähr stößt im Deutschunterricht die Frage der Schuld in all ihren Facetten auf besonderes Interesse, hängt sie doch immer mit den Konsequenzen des eigenen Handelns zusammen. Eine Schülerin schreibt:

Wenn der Tag vorüber ist
Denke ich an alles, was ich getan habe.
Habe ich den Tag vergeudet
Oder habe ich etwas erreicht?
Habe ich mir einen Freund gemacht
Oder einen Feind?
War ich wütend auf alle
Oder war ich freundlich?
Was ich auch getan habe,
Es ist vorbei.
Während ich schlafe,
Bringt die Welt einen neuen strahlenden Tag hervor,
Den ich gebrauchen kann
Oder vergeuden
Oder was immer ich will.
Heute Abend nehme ich mir vor:
Ich werde gut sein,
Ich werde freundlich sein
Ich werde etwas tun,
Was wert ist,
getan zu werden.

Das Bedürfnis, die Selbstständigkeit zu erproben, wächst

Ein rätselhafter, fast unmerklicher Entwicklungsschritt vollzieht sich in der elften Klasse. Die Jugendlichen wirken gefestigt, angekommen. Ihre Urteilstätigkeit sucht nach Objektivität, kritischer Auseinandersetzung und differenzierter Verinnerlichung. Fragen an die Welt, an die eigene Biographie können bewusster, gereifter formuliert werden, wobei die häufig zitierte Frage nach dem »Woher« und »Wohin« der eigenen Individualität im Zentrum steht: Was kann ich, was möchte ich, wohin führt mein Lebensweg?

Der Weg Parzivals, der im Deutschunterricht behandelt wird, ist ein Bild für diese Situation: Von rätselvollen Schicksalskräften zur Gralsburg geführt, versagt er dort, weil er die entscheidende Frage nicht ausspricht, die dem kranken Amfortas hätte helfen können. Als ihm dies bewusst wird, stellt er alles in Frage, was ihm bisher selbstverständlich war, und beschließt, den Gral aus eigener Kraft zu suchen. Die Ahnung, dass die Zukunft selbstständig, aus eigenen Ideen und eigenem Willen heraus gestaltet werden kann, vermag neue Impulse in der Seele der Jugendlichen zu wecken.

Je mehr die Ich-Geburt naht, desto stärker wird das Bedürfnis der Jugendlichen, ihre Selbstständigkeit zu erproben und eigene Ideen zu verwirklichen. Dass dies nicht immer gelingt, liegt daran, dass das Ich als impulsgebendes und organisierendes Prinzip eben noch nicht voll zur Verfügung steht; umso mehr sind die Erwachsenen gefordert, den Jugend­lichen helfend und freilassend zur Seite zu stehen. Das geschieht in der zwölften Klasse zum Beispiel im Zusammen­hang mit der Jahresarbeit, wenn die Schüler eine eigene Idee umsetzen und den dazu gehörigen Prozess organisieren lernen. Häufig führt dieser Prozess zu Erkenntnissen und Erfahrungen, die für den weiteren Lebensweg, auch für die Berufsfindung prägend sind.

Im 19. Lebensjahr verdichtet sich der Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft noch einmal in besonderer Weise, wenn sich die Mondkonstellation, die bei der Geburt vorherrschend war, wiederholt (Mondknoten). Steiner spricht in diesem Zusammenhang von »wichtigen Nächten«, in denen der Mensch »gewissermaßen ein Fenster geöffnet hat gegenüber einer ganz anderen Welt«. Es ist anzunehmen, dass die Seele in dieser Zeit die Impulse für das eigene Leben in gesteigerter Intensität erlebt, ein Vorgang, der von seelischen Krisen begleitet sein kann.

Sehen wir das, was werden will?

Vermag man dieser Betrachtung des Jugendalters zwischen dem vierzehnten und neunzehnten Lebensjahr zu folgen, ergibt sich, dass die jugendliche Seele zunächst von den Kräften ihrer vorgeburtlichen Vergangenheit beflügelt wird und der Zukunft mit Erwartungen und Hoffnungen begegnet; dass sie in einer nächsten Entwicklungsphase erfährt, wie das Alte stirbt, das Neue sich aber noch nicht abzeichnet. Verbunden damit erlebt sie die Notwendigkeit, das Leben künftig aus eigenen Kräften heraus zu bestimmen und zu führen. Dies verdichtet sich in den folgenden Jahren zu der Ahnung, dass die Zukunft aus den Impulsen einer geistigen Vergangenheit heraus gestaltet werden kann.

Es ist demnach von Bedeutung, wie wir die Jugendlichen wahrnehmen: Sehen wir an und in ihnen nur das, was geworden ist oder das, was werden will? Der positive Blick auf den Zukunftsmenschen in jedem Jugendlichen schafft eine Form der Begegnung mit seiner Individualität, die ihm Entfaltung ermöglicht, ihn in seiner Entwicklung begleitet, ihn stärkt und ihm über Krisen hinweghilft. ‹›

Literatur: Rudolf Steiner: Metamorphosen des Seelenlebens, Vortrag vom 14.3.1910, in GA 58, Dornach 1984
Ders.: Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung, Vortrag vom 10.3.1908, in GA 61, Dornach 1983
Ders.: Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, Vortag vom 16.4.1920, Dornach 1987
Ders.: Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhang mit Welt- und Erdentwicklung, Vortrag vom 24.5.1922, Dornach 1998