Den Leib gesund aufbauen – Entwicklung in den ersten sieben Lebensjahren

Karl-Reinhard Kummer

Hermann Michael Stellmann (22.10.1925 – 2.4.2010), dem einfühlsamen Beobachter des schutzbedürftigen Kindes gewidmet.

Mit der Geburt erlebt der Mensch den dramatischsten Moment seines Lebens. Alle seine bisherigen Lebensverhältnisse muss das neugeborene Kind umstellen. Schon dabei zeigen sich sehr große individuelle Unterschiede: Manche Neugeborene brauchen lange, bis sie in die Welt hinausschauen können, andere wirken vom ersten Moment an wach und scheinen voller Interesse für ihre Umwelt. Die Umgebung wirkt in ihrer Gesamtheit auf das Kind, es erlebt nicht nur Wärme und Kälte, sondern auch die Schwerkraft, mit der es sich von nun an auseinandersetzen muss.

Wenn sich das Kind selbst berührt, berührt es die Welt

Erstaunlich ist es, wie das kleine Kind die Welt erlebt: Sie ist ihm fremd. Die Welterfahrung beginnt mit dem Tasten und gehört zu den elementarsten Erlebnissen des Kleinkindes. Es lutscht an seinen Fingern, die Hände berühren sich, dann den Brustkorb und später die Knie und die Füße. Lange erlebt das Kind dabei den Leib wie etwas Äußeres. Die Entwicklung geht, wie bei aller Bewegung, von oben nach unten, vom Zentrum des Kopfes zu den Gliedmaßen. Dieses Erkunden des eigenen Leibes mit den Händen ist eine der Grundlagen dafür, dass das Kind den Leib heben und aufrichten kann. Gleichzeitig kann es dazu übergehen, auch die Dinge der Umwelt zu »begreifen«.

Es muss dabei durch eine Phase hindurch, die der bekannte Säuglingsforscher und Entwicklungspsychologe René Spitz als Achtmonatsangst beschrieb: Der Säugling erlebt die fremde Umwelt und fremde Menschen als Verlust der vertrauten sicheren Heimat. Das Kind muss sich dieses Fremde vertraut machen, dann weicht die Unsicherheit. Das setzt voraus, dass die Umgebung auf diese Unsicherheit reagiert und dem Kind die Möglichkeit gibt, das Vertrauen wiederzugewinnen.

Wenn das Kind etwas sieht, wird es genauso, wie das, was es sieht

Mit nicht erlahmender Kraft und Neugier wendet sich das Kind der Welt und ihren interessanten Dingen zu. Natürlich ist das anstrengend und ermüdend. Zwei Fähigkeiten helfen ihm, diese Aufgabe zu meistern. Zum einen erholt es sich schnell. Zum anderen lernt es völlig anders als ein Erwachsener, nämlich durch die Nachahmung. Es telefoniert zum Beispiel mit einem Holzklotz genauso intensiv wie der Erwachsene mit seinem Mobiltelefon. Es erfasst das Geschehen in seiner Umgebung in seinem inneren Gestus. Besonders sind es die Gedanken und die (unausgesprochenen) Gefühle der Erwachsenen, die das Kind in sich aufnimmt. Es ahmt die Intentionen und die Gesinnung nach, ohne unmittelbar die Tätigkeit zu kopieren. Die Inbrunst, mit der das Kind spielt, spiegelt wider, wie intensiv es sich mit dem identi­fiziert, was es nachahmend spielt: Mit der Liebe, mit der der Erwachsene kocht oder putzt, mit der Sorgfalt, mit der er seine Arbeit erledigt. Rudolf Steiner beschrieb diesen Vorgang als ein hoch moralisches, tief unbewusstes Geschehen.

Das Kind will ein aufrechter Mensch werden

Gehen, Sprechen und Denken beschreibt Steiner als die grundlegenden Fähigkeiten, die das kleine Kind in den ersten Lebensjahren erwirbt. Die Aufrichtung beginnt schon beim Neugeborenen im Blick: Das Kind saugt sich fest am Blick des Erwachsenen, nimmt ihn nachahmend auf und richtet sich an ihm auf. Aufrichtung bedeutet unabhängig, selbst-»ständig« zu werden, der Schwerkraft zu trotzen und ein ganzer Mensch sein zu können.

Die Entwicklung zum aufrechten Menschen endet erst in der Schulzeit, wenn der Rumpf ganz durchgestreckt werden kann. Besonders markant ist der Erwerb des freihändigen Treppensteigens mit etwa drei Jahren oder das freie und flinke Hüpfen kurz vor dem Schuleintritt. Wenn sich ein Kind lebendig bewegt, erfasst es den Boden unter sich, die Menschen neben sich, die Lücken zwischen den Möbeln oder das schwankende Brett, auf dem es balanciert. Die Ergebnisse der Hirnforschung bestätigen diesen Zusammenhang: Ausdifferenzierte Bewegungsstrukturen (Feinmotorik) bilden sich in der späteren Entwicklung als kognitive Leistungsfähigkeit ab. So kann verständlich

werden, dass eine lebendige körperliche Bewegung die Grundlage für ein lebendiges und bewegliches Denken ist.

Den Säugling interessiert vor allem, wie Menschen miteinander umgehen

Schon das Neugeborene ist immer in Kontakt mit der Welt. Dabei scheint es vor allem Interesse daran zu haben, wie die Menschen miteinander und mit ihm umgehen: auch bei ziemlichem Lautstärkepegel können Kinder auf einem harmonischen Familienfest ruhig schlafen, andererseits kann eine noch so heimliche Streiterei die Kinder beunruhigen, so dass sie aufwachen.

Mit etwa vier bis sechs Wochen gibt der Säugling zu erkennen, dass er im anderen Menschen jemanden erlebt, mit dem er sich  kommunizierend austauschen kann: Er lächelt, erst verhalten, dann immer deutlicher, wenn er den Blickkontakt erwidern kann. Tiefstes Glück drückt dieses Lächeln aus, als wollte das Kind sagen: »Wir verstehen uns«. Es folgt eine Phase des Anlächelns. Ansehen und den Blick wegziehen, sich »verstecken« bildet eines der beliebtesten Spiele des Säuglings- und Kleinkindalters.

Das erste »Sprechen« des Kindes ist mehr ein Zeigen, ein Anzeichen der eigenen Begeisterung, auch des Missfallens, und geschieht noch auf der vorsprachlichen Ebene der Gestik. Ungeheuer gesteigert wird die Kommunikation, wenn sie auf die Ebene der gesprochenen Sprache und des gewollt eingesetzten Wortes gehoben wird. So wie die Muskeln des Kehlkopfes die Sprache des anderen Menschen nachahmen, ahmt die Sprache des Säuglings und Kleinkinds nach, wie es die Welt erlebt. Alles wird mit den eigenen Worten kommentiert und begleitet. Zwar wird die Mimik etwas zurückgenommen, doch begleitet nun das kleine Kind alles, was es in der Welt erlebt oder womit es spielt, mit melodischen Worten. Die Hose wird mit den Worten »Anziehen« kommentiert, das Brot mit behaglichen Worten in Empfang genommen, die Hände mit den Worten »Sauber machen« immer wieder und wieder gewaschen, bis die Seife ganz aufgeweicht ist.

Das erste eigene Verständnis der Welt

Denken heißt zunächst nicht, sich eigene Gedanken über die Welt zu machen, sondern, sie als sinnvoll und in Sinnzusammenhängen zu erleben. Das kann sich sprachlich bisweilen putzig anhören: Ein »Zumacher« kann folgendes sein: Der Verschluss einer Flasche, ein Wasserhahn oder eine Türklinke. Wenn die Kinder mit etwa zweieinhalb Jahren so weit gekommen sind, dann gehen sie zur nächsten wichtigen Stufe über, dem Entdecken des eigenen Ich.

Für die Empfindung des eigenen Ich muss das Kind seinen eigenen Leib empfinden und mit ihm umgehen können. Das ist erstaunlich eng an die Sauberkeitsentwicklung gebunden: Den Urin zu halten und willkürlich lassen zu können, setzt eine gewisse Wachheit für den eigenen Leib voraus. Noch deutlicher ist das bei der Beherrschung des Stuhlgangs: Das Kind kann seinen After nicht sehen, es muss ihn innerlich erleben können, damit es ihn willent­lich zuhalten oder beim Stuhlgang betätigen kann. Das spielt sich rein in der vorstellenden Denkfähigkeit ab. Ich-Empfindung ist Denk-Empfindung.

Der Trotz begleitet die Entwicklung des Ichs

Ich-Empfindung bedeutet, sich als eigenständig und getrennt von der Welt empfinden zu können. Das schließt ein, dass man weiß, was zu einem selbst gehört und was nicht. Konkret: Das Kind muss wissen, dass sein Leib und es selbst trotz des »Verlusts« des Stuhlgangs komplett bleibt, im Gegenteil durch die Ausscheidung befreit und entlastet wird.

Zu dieser Entwicklungsstufe gehört auch der Trotz. Er tritt bei den meisten Kindern schon einmal im Lauf des zweiten Lebensjahres auf, wo der kindliche Wille und der Erwachsenenwille aufeinander prallen. Trotz gibt es auch im dritten Lebensjahr, hier mehr als Verzweiflung darüber, dass man in dem, was man als Kind will, vom Erwachsenen nicht verstanden wird, es oft auch selbst nicht ausdrücken kann. Der Trotz hat mit der Ich-Entwicklung und vorstellenden Denktätigkeit zu tun. Das Kind stellt sich etwas vor, was eintreten soll. Zum Beispiel möchte es die Hose mit den kleinen rot-blauen Karos anziehen. Die Eltern bieten eine Hose mit Karos an, aber nicht die genau vorgestellte mit den kleinen rot-blauen Karos. Das Kind verzweifelt daran, dass Vorstellung und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, dass die Welt nicht so ist, wie es sie sich vorstellt.

Wenn die Entwicklung so weit vorangeschritten ist, dass das Kind sich selbst, als Selbst mit Ichgefühl gefunden hat, ist es reif und offen für weitere soziale Kontakte. Erst nach der vollen Entwicklung des »Ich«-Empfindens mit gut drei Jahren kann man davon ausgehen, dass das Kind eine innere Bereitschaft hat, andere Kinder zu erleben und den Kindergarten zu besuchen. Das ist auch das Alter, in dem es Phantasie entwickelt und das eigene Denken sinnvoll anwendet. Ein Mittel dazu ist das Rollenspiel. Für den Jungen wird vielleicht ein Teller zum Lenkrad, für Mädchen eine einfache Puppe zur Prinzessin oder zum Baby.

Ich will lernen: Der Weg zur Schulreife

Wenn man als Kinderarzt bei der U 9 mit etwa fünfeinhalb Jahren ein Kind fragt: »Kannst Du schon Deinen Namen schreiben?«, sind die meisten Kinder glücklich, dass sie das können, beginnen zu schreiben und schreiben ihn meistens schon ganz aus. Wenn einige Buchstaben spiegelverkehrt auftauchen, ist das nicht weiter schlimm, weil man noch nicht erwarten muss, dass die Buchstaben und Zahlen ihren richtigen Bezug zu oben und unten oder rechts und links haben. Wichtig ist die Tätigkeit als solches: Schreiben zu können, und das beginnt mit dem eigenen Namen.

Schreiben erfordert eine große Zahl weiterer erfolgreicher Entwicklungsschritte, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können: Ein »A« schreiben kann man nur, wenn man gleichzeitig den Stift nach rechts und nach oben führen kann. Diese Fähigkeiten übt das Kind in der Motorik: Es bekommt ein Gefühl für Rhythmen, die es nachklatschen kann. Es kann zwei Dinge gleichzeitig tun, was sich besonders beim Seilhüpfen zeigt: Das Seil schwingen und im richtigen Moment koordiniert im Rhythmus des Seils abspringen. Es bekommt ein Gefühl für den Raum, wenn es rückwärts hüpfen und den rückwärtigen Raum hinter sich beherrschen kann.

Notwendig für das Schreiben ist es auch, dass man Bewegungen bremsen, sie zurückhalten, sie in ihr Gegenteil zurückführen kann. Schon eine »8« kann man nur malen, wenn man eine Bewegung in Bereiche führt, die man nicht von Natur aus beherrscht, sondern erüben muss: Bei der »8« zu kreuzen, bedeutet einen ganz besonderen Entschluss, weil man aus dem gewohnheitsmäßigen Kreise-Malen heraus muss. Für die komplette »8« muss man außerdem die Bewegung zurückführen können, sonst kann man sie nicht schließen. Rudolf Steiner beschrieb, dass die gewöhnlichen Wachstumskräfte in Kräfte für das Lernen umgewandelt werden. Die Beispiele zeigen, wie das Kind am Ende der Vorschulzeit zu ganz neuen Fähigkeiten kommt. Nun geht es nicht mehr darum, in der gewohnten Richtung zu bleiben, sondern die eigene Bewegung anzuhalten, umzudrehen und somit richtig zu beherrschen. Es ist bereit, vom Lehrer zu lernen.

Kleine Kinder bedürfen des Schutzes und der Zusammenarbeit der Erwachsenen

Das Kind braucht den Schutz und die positive Begleitung des Erwachsenen. Das beginnt schon im Säuglingsalter, wo der Schutz vor Unterkühlung wichtig ist. Einem Säugling eine Mütze aufzusetzen, ist kein romantischer alter Zopf, sondern entspricht seinem Bedürfnis nach Hülle. Das wird auch bewusst im Waldorfkindergarten praktiziert, der ein behüteter Hort der Ruhe sein möchte, auch in Zeiten pädagogischer Experimente mit  zu früher Leistungsherausforderung und Stress für kleine Kinder. Kleine Kinder brauchen einen Halt, der sie befähigt, später als Erwachsene mündig zu sein und mit Tatkraft die Welt zu gestalten. Ein immer wichtiger werdender Halt ist das Erlernen guter Gewohnheiten. Ein Musiker muss eine schwierige Passage immer wieder üben, damit sie sicher »sitzt«. So gibt auch ein regelmäßiger Tageslauf in Elternhaus und Kindergarten den Kindern Sicherheit und Orientierung, gerade für die vielen scheinbar forschen Kinder, die ihr »Hüllenbedürfnis« nicht offen zeigen.

Voraussetzung ist eine fruchtbare und sinnvolle Zusammenarbeit der Erwachsenen. Das Kind sollte nur Sinnvolles in seiner Umgebung erleben, vor allem im sozialen Miteinander. Das betrifft auch die gemeinsame Arbeit im Kollegium eines Kindergartens und das Miteinander mit den Eltern. Wenn kleine Kinder ein fruchtbares soziales Klima erleben können, fördert das ihre eigenen sozialen Fähigkeiten.

Zum Autor: Dr. Karl-Reinhard Kummer arbeitet als Kinderarzt in Karlsruhe und betreut die dortigen Parzivalschulen als Schularzt.

Literatur:
Monika Kiel-Hinrichsen: Warum Kinder trotzen, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2001
Christiane Kutik: Entscheidende Kinderjahre. Ein Handbuch zur Erziehung von 0 bis 7, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2009
Rudolf Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft (1907), Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984