Wenn japanische Grundschüler von einem Roboter unterrichtet werden, finden sie den Unterricht interessanter als beim Lehrer.
»Bist du traurig?«, fragt der Roboter, wenn die Tonlage eines Kindes ins Melancholische rutscht, obwohl die Lehrerin noch gar nicht bemerkt hat, dass es dem Kind nicht gut geht. Der Roboter hatte im Laufe der Zeit gelernt, immer individueller auf jedes Kind zu reagieren. Dabei verfügt er über 25 Sprachen und verliert nie die Geduld, wenn er Vokabeln abfragt oder zum Beispiel im Sportunterricht etwas vorturnen soll, berichtet die ZEIT vom 10. September 2015.
Computer von Facebook können schon zwölf Tage vorhersehen, ob sich zwei Menschen ineinander verlieben werden. Kennen die Maschinen uns Menschen inzwischen genauer, als wir uns selbst? Andererseits habe ich erlebt, wie sich Kinder einer vierten Klasse beklagten, warum sie noch rechnen lernen müssen, wo es doch heute Geräte dafür gibt, die das viel besser können. Spätestens seit der Erfindung des Smartphones stellt sich für jedes Fach diese Frage – sei es in Rechtschreibung, Physik oder Geschichte: Wozu soll man das noch lernen? Alles Wissen ist jederzeit auf dem Display abrufbar, und ausführlicher, als man es jemals für das Abi pauken könnte. Bedenkt man zudem, dass seit der Markteinführung vor zehn Jahren bereits mehr Smartphones verkauft worden sind, als auf der Erde Menschen leben, ahnt man von der globalen Dimension dieser neuen Herausforderung.
Ein Gläschen Schnaps zur Gewöhnung
Der rasante Siegeszug des Computers ist in der Geschichte ohne Beispiel, und auch wenn die Schattenseiten dieser Entwicklung – besonders die pädagogischen Gefahren – zunehmend gesehen und diskutiert werden, herrscht weithin Ratlosigkeit, wie dem zu begegnen sei. Gern spricht man von Medienkompetenz, aber was ist damit gemeint? Auf dem Smartphone wischen und tippen kann jeder, doch wie bei einer heißen Herdplatte sieht man die Gefahr nicht. Vor der Herdplatte werden Kinder jedoch gewarnt. Nicht vor dem Computer. Statt Kinder davor zu schützen, wird diese Gefährdung »digitale Bildung« genannt. Manfred Spitzer bringt es in seinem Buch »Cyberkrank« auf den Punkt: Medienkompetenztraining sei wie Alkoholkompetenztraining: »Einen Schnaps am Tag zur Gewöhnung.«
Mit Vernunft und Sachverstand scheint man gegen den Vormarsch der Maschine nicht anzukommen. Sie drängt in jeden Lebensbereich – und in jedes Lebensalter.
Wir wissen, dass der Mensch nur durch fortdauernde Entwicklung zum Menschen wurde. Realisieren wir auch, welche Konsequenz das hat? Evolution ist niemals abgeschlossen. Wir stehen mitten drin, nur dass inzwischen auch die Geschöpfe des Menschen – die Maschinen – hinzugekommen sind. In sie hat der Mensch im vergangenen Jahrhundert all seine Intelligenz fließen lassen. Dafür wurde praktisch jeder Punkt der Erde mit kühlem Verstand vermessen und daraufhin befragt, wie er nutzbar gemacht werden kann. Selbst das Leben schien ein Mechanismus zu sein, nur etwas komplizierter. So wurde mit unglaublichem Fleiß und Scharfsinn eine Welt erschaffen, die uns heute wie eine zweite Schöpfung umgibt. Aber ist der Mensch diesem Potenzial selber noch gewachsen?
Seit er im Kräftemessen mit der Dampfmaschine zum ersten Mal unterlag, war es für immer vorbei. Er hatte nie wieder eine Chance. Steht uns dieses Schicksal auch in Bezug auf Roboter und Künstliche Intelligenz bevor?
Neu denken lernen in neuen Schulen
Wir stehen an einem kritischen Punkt. Die einseitige Fixierung auf äußere Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik mit ihren sozialen und ökologischen Folgen hat uns in existenzielle Nöte getrieben. Die können nicht gelöst werden durch jenes Denken, das zu diesen Problemen führte. Wir brauchen ein neues Denken. Ein wärmeres Denken. Ein Denken, welches die Welt nicht nur wie eine komplexe Maschine betrachtet, sondern nach Sinn zu fragen lernt.
Dafür brauchen wir neue Schulen. Und wenn es sie nicht gäbe, dann müssten wir sie noch heute erfinden. Denn die traditionelle Schule war vorrangig fixiert auf die Entwicklungen der äußeren Welt. Dies braucht heute eine Ergänzung: Der Mensch selbst ist es, der in seiner Entwicklung einer Förderung bedarf. Er ist nicht fertig, so wie er ist. Die Evolution geht weiter. Unsere technisch dominierte Welt verlangt nach einem Ausgleich, den nur er selbst in seinem Denken schaffen kann. Das betrifft jeden. Denn im Denken entscheidet sich, wie wir die Welt verstehen. Und was wir dann aus ihr machen. Die Schule ist der Ort, wo wir beginnen können, dass der Mensch wieder in den Mittelpunkt rückt. Eine höchst anspruchsvolle Herausforderung – sofern man es nicht bei einem Werbeslogan belässt. Denn Kinder haben nicht das Problem, dass sie nicht mit einem Computer umgehen könnten, sondern dass sie mit sich selbst nichts mehr anzufangen wissen. Statt aus der eigenen Phantasie ein Spiel zu erfinden, greifen sie zunehmend zum Bildschirm.
Lehrer verschiedenster Schultypen beklagen, dass kindliche Neugier und Interesse innerhalb weniger Jahre spürbar nachlassen. Lernen zu dürfen wird offenbar immer mehr zu einer Belastung. »Dass unsere angehenden Lehrlinge keine Prozent- oder Bruchrechnungen mehr können, ist ja nicht das Problem – das können wir ihnen beibringen. Das wirkliche Problem ist: die jungen Leute wollen nicht mehr!«, klagt ein ratloser Personalchef, der in der Zeitschrift »Nervenheilkunde« zitiert wird. Was sagt das über die Schule? Wodurch bilden sich menschliche Fähigkeiten wie Wille und Denken? Und auch das Fühlen ist heute zur Frage geworden. Ein traditionelles Verständnis von Schule führt hier also nicht mehr weiter. Wir sind herausgefordert, wir stehen vor Neuland, ohne Vorbild und ratlos.
Doch dann kann man entdecken: Diese Herausforderungen sind in der Pädagogik Rudolf Steiners bereits berücksichtigt. Denn die Gefahren des heraufziehenden Maschinen-Zeitalters – und dessen Chancen – waren ihm schon bewusst, bevor er die neue Pädagogik begründete. Eine rückwärts gewandte Gesinnung oder Technikfeindlichkeit lehnte er jedoch entschieden ab (Vortrag vom 28. Dezember 1914): »Es wäre das Allerfalscheste, wenn man nun etwa sagen würde, da müsse man sich sträuben gegen das, was nun einmal die Technik uns in dem modernen Leben gebracht hat. [...] Das wahre Heilmittel besteht darin, [...] die Kräfte der Seele stark zu machen, damit das moderne Leben ertragen werden kann.«
In der Schule, so Steiner zu Beginn des methodisch-didaktischen Kurses für die ersten Waldorflehrer am 21. August 1919, komme es deshalb heute nicht mehr darauf an, Wissen als solches zu vermitteln, sondern diesen Wissensstoff daraufhin zu befragen, wie er »zur Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten« beitragen kann. Es geht also nicht mehr darum, dass man rechnen lernt, weil man es im Leben brauchen würde. Aber ist das Rechnen nicht ein idealer Weg, um denken zu lernen?
Wenn Rechnen zur sozialen Erfahrung wird
Haben Sie einmal in den Augen eines Kindes jenen Moment beobachtet, in dem es eine Rechenaufgabe nicht mehr aus dem Gedächtnis beantwortet, sondern sagt: »Ach so! Jetzt weiß ich, warum zwei und drei fünf ergibt. Ja, das ist klar.« Unzählige Male hatte der Lehrer vorher vergeblich seine fünf Finger gezeigt: »Hier, schau doch hin!« Aber da war nichts zu sehen außer Finger. Die Fünf blieb immer unsichtbar! Bis sie eines Tages auftauchte – im Innern. So entsteht Selbstvertrauen. Später beginnt das Kind zu erfassen, dass auch andere Menschen Zugang haben zu dieser unsichtbaren Welt, so dass wir in dieser inneren Wirklichkeit tatsächlich mit allen Menschen verbunden sind. Mathematik wird zu einer sozialen Erfahrung. – Aus »Stoff« ist Entwicklungshilfe für mehr Menschlichkeit geworden. Entscheidend anders und doch ganz unspektakulär.
Formenzeichnen: Ich zeichne einen großen Kreis an die Tafel, so gut mir das gelingt. Da meldet sich Sophie: »Aber oben ist es gar kein richtiger Kreis!« – »Woher weißt du denn das? Wir haben noch nie einen Kreis gezeichnet.« – »Das sieht man doch!«, antwortet die Schulanfängerin. »Warum kommst du noch zur Schule?«, frage ich schmunzelnd, „Du kannst es ja schon!« – Ein beflügelndes Erlebnis für Kinder, wenn sie entdecken dürfen, dass sie eigentlich schon kennen, was sie in der Schule lernen. Es ist ein Wiedererkennen, ein Erwachen. Solche Schule belastet nicht, sondern setzt Kräfte frei, die seelisch aufrichten. Steiner beschreibt ein ähnliches Erlebnis in seinem Buch »Mein Lebensgang« aus seiner Kindheit: »Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.«
Interesse anregen, statt googeln
Wie lässt sich dieser Innenraum weiter stärken? Wie findet man Aufgaben, Themen für Projekte, Aufsätze oder Hausaufgaben, ohne die Schüler zu verleiten, sich Verschnitte aus dem Internet zu kopieren, mit denen sie allenfalls einen matten Glanz erzeugen, selbst aber leer ausgehen? »Wenn Sie den Kindern solche Fragen stellen, die die Kinder neugierig machen auf das, was sie selbst herauskriegen, dann ist es etwas, was sie anregt«, sagte Steiner in einer Lehrerkonferenz am 28. April 1922.
Für die 7. Klasse empfahl er zum Beispiel, einen Aufsatz schreiben zu lassen, in welchem die Schüler ihrer Begeisterung für die moderne Technik freien Lauf lassen können, ohne auf Befindlichkeiten ihrer Lehrer oder Eltern Rücksicht nehmen zu müssen. In der Sprache der damaligen Zeit: »Die Dampfmaschine, ein Zeuge der menschlichen Stärke.« Etwas später dann wieder ein Aufsatz. Diesmal jedoch wird die Gegenseite thematisiert: »Die Dampfmaschine, ein Zeuge der menschlichen Schwäche. – Hintereinander solch ein Thema. Ich glaube, daran erregen Sie das Interesse.« Und als Beispiel für die 8. Klasse nannte er: »Was ist schön an der Natur? Dann: Was ist schön an der Seele? Mehr solche Themen, wo die Kinder genötigt sind, in der Bearbeitung des Themas sich zu konzentrieren.« – Solche Themen, die zum eigenen Beobachten anregen, sind wie Therapie gegen den Dauerbeschuss eingehender Nachrichten von WhatsApp & Co., die uns ständig wegreißen, die uns abschweifen lassen. Und solche Fragen kann man nicht googeln, denn sie sprechen jeden persönlich an. Das macht den Unterschied.
Im Geschichtsunterricht der 8. Klasse solle man, sagt Steiner in seinem ersten Lehrplanvortrag vom 6. September 1919, nicht lange bei Karl dem Großen verweilen, in diesem Alter sei wichtiger, welche Auswirkungen die moderne Technik auf das Leben hat. Und in der Konferenz vom 8. März 1920 regte er an, sich nicht lange mit der maroden Parteien-Demokratie aufzuhalten, man könne bereits »in der 7. und 8. Klasse [...] das geben, was in den Kernpunkten der sozialen Frage steht«, und damit Grundlagen schaffen für einen Sozialkunde-Unterricht in der Oberstufe, der an der Zukunft orientiert ist.
Zusammenhang statt Einzelteile
Maschinell zu denken heißt, die Welt aus Einzelteilen zu denken. Die neue Schule jedoch geht von den Zusammenhängen aus. Und sie fragt nach dem Bezug zum jeweiligen Menschen. In jedem Fach. In jedem Alter. Ganz konkret. Denn die Digitalisierung fordert die Sinnfrage heraus: Willst Du Mensch sein oder Maschine? – Hinter den Schattenseiten der Gegenwart verbirgt sich ein Licht: Die Wiederentdeckung des Menschen.
Zum Autor: Friedhelm Garbe ist Orgelbauer, Theologe, Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Jena und überwiegend in der Lehrerbildung tätig (www.waldorf-fernstudium.de)