Unter Imagination soll hier nicht ein einfaches bildhaftes Denken verstanden werden, sondern der reale Zugang zu ersten imaginativen Erfahrungen, das heißt, dass die Schüler lernen, lebendige, selbst geschaffene Vorstellungen in beweglichen Bildern und Begriffen zu erzeugen.
Neunte Klasse – sinnliche Beobachtung
Beginnen wir in der neunten Klasse mit der Epoche zur Wärmelehre. Hier bekommt der Schüler einen Einblick in die Funktionsweise der Wärmekraftmaschinen, wie der Dampfmaschine, der Verbrennungsmotoren und der Kältemaschinen. Beachtet man den Aufbau dieser Inhalte so wird das Denken, Fühlen und Wollen ganz in der Anschauung der Sinneswelt gehalten.
In diesem Lebensabschnitt interessiert den Schüler besonders das »Wie« einer Sache. Die Funktionsweisen der Maschinen können die Schüler genau beobachten und die Begriffe, die hier entstehen, sind sozusagen aus der eigenen Beobachtung gebildet. Hier wird noch kaum ein Denken geschult, welches von den physischen Gegenständen abgezogen ist und durch eigene, theoretische Vorstellungen ergänzt wird.
Zehnte Klasse – statische Bilder
Theoretische Vorstellungen werden in der zehnten Klasse in der Epoche zu der Mechanik gebildet, wenn zum Beispiel bei einfachen Tragwerken, wie bei einem Lastkran, erstmalig der Vektor eingeführt wird. Was symbolisiert ein solcher Vektor? Der Schüler wird mit der Betrachtung eines Kranes auf seine »innere Gestaltungsaufgabe« hingewiesen, die anschließend in der bildhaften Pfeildarstellung des Vektors mündet. Hier tritt also an die Stelle der sinnenfälligen Beobachtung ein abstraktes Bild (Symbol), welches die innere Tragkraft des Lastkranes darstellen soll. Diesem Bild werden dann auch die Größe oder die Länge und die Richtung der Wirkungsweise des Vektors zugeordnet. Es ist jedoch ein statisches Bild, das so als Modellvorstellung aufgenommen wird und mit dem verschiedene Anwendungen, wie geschwindigkeits-, beschleunigungs- oder eben kräftemechanische Aufgaben gelöst werden können.
Diese Art des Vorgehens entspricht der Entwicklungssituation des Zehnklässlers, der beginnt, mit eigenen, ich-geführten, geordneten Gedanken zu wirklichen Urteilen über die Welt und ihre Zusammenhänge zu kommen. Dazu wird sein Denken gewissermaßen durch das Abziehen von der Sinnenwelt und das Hinwenden an Ersatzsymbole mit bestimmten Eigenschaften weiterentwickelt.
Diese Tatsache kann, wenn auch nur mit etwas Phantasie, in einem Epochen-Spruch, eigens für die Mechanik-Epoche geschrieben, entdeckt werden:
Kraft und Bewegung
Es läuft und staut sich wechselweis’,
hält an, fährt fort, dass keiner weiß,
wie es geschah, woher es kam,
warum es fängt von vorne an.
Das Eine immer sich verdichtet,
sich tendenziell zum Stehen richtet.
Es bildet innerlich die Kraft,
die äußerlich die Ruhe schafft.
Das Andere eher weithin flüchtet,
sich tendenziell zum Gehen richtet.
Es bildet äußerlich Bewegung,
wenn innerlich auch keine Regung.
So beide gut zusammen passen,
denn keiner kann den Andren lassen.
Kraft und Bewegung, Bewegung und Kraft,
das Eine aus dem Andern schafft.
Elfte Klasse – bewegte Bilder
Die Physik der elften Klasse erweitert die vorher geschilderte Bewegung, indem nun in der Elektrizitäts-Epoche der nicht sichtbare Strom mit seinen wahrnehmbaren Wirkungen in den Vordergrund tritt. Hier wird von den Schülern meist die Vorstellung des Elektronenflusses in den Randzonen der Kabel als Modellvorstellung gebildet. Wenn dieses Bild nun auch Bewegung in die Vorstellung bringt, so wird der Lehrer aufgefordert, die Erklärung des Stromes nicht bei der Flussvorstellung zu belassen, sondern er soll den Schülern klarmachen, dass der Strom nicht fließt, sondern »herrscht« oder, dass der Strom entweder »ist« oder »nicht ist«.
Dabei wird das bildhafte Denken in den Vorstellungsbereich geführt, in dem kein analoges Bild aus dem Naturreich mehr auftritt und man sich die Frage stellt, was ist denn nun da los? Wie kann man diesen Strom denn denken? In diesem Zustand ringen die Schüler dann mit dem Lehrer um eine neue Anschauung des Stromes und wenn dies nicht gelingt, so fallen die meisten wieder in das Bild des Stromflusses zurück. Eine mögliche Vorstellung, die man hier bilden kann, ist die des Ladungsausgleichs, also das Bild der Waage, die die Polarität von getrennten Ladungen in der
Balance hält und im Gleichgewichtsmoment, dem geschlossenen Stromkreis, die Wirkung der Elektrizität zum Beispiel in Form von Licht hervorbringt.
Zwölfte Klasse – sinnlichkeitsfreies Vorstellen
Dieses Denken wird dann in der Optik-Epoche der zwölften Klasse weiterentwickelt.
Hier wird auf die Besonderheiten des Lichtes eingegangen. Die gängigen Theorien der Strahlen, der Teilchen und der Wellen werden dargestellt und diskutiert. Es treten in diesen Theorien jeweils bestimmte Phänomene auf, zum Beispiel der Lichtdurchgang durch eine Sammellinse, die dann zu der Annahme der Strahlentheorie führt und hier auch eine mathematische Gesetzmäßigkeit, das sogenannte Abstandsgesetz, ergibt. Leider gibt es nicht eine einheitliche Theorie über das Licht, die alle optischen Phänomene erklären kann. So wird der Schüler in die Vorgehensweise der Naturwissenschaft eingeführt, die ja ihre Theorien durch Beobachtungen an der Natur gewinnt und zur Erklärung der Beobachtung eine Analogie aus einem anderen Naturreich verwendet. Bei der Wellentheorie hat Christiaan Huygens das Phänomen der Beugung durch die Analogie der Wasserwelle beim Auftreffen auf ein Hindernis erklärt, indem er die Wellen sehr sehr klein, also nicht sichtbar, vorstellte und dann damit eine theoretisch mögliche Erklärung für die Beugung gab. Diese Erklärung entzieht sich jedoch der Beobachtung und ist damit eine Theorie (Modell).
Mehrfach in dieser Epoche wird der Schüler auf diese Weise durch die Theorien geführt. Was passiert dabei in seinem Denken? Es wird über verschiedene Stufen geleitet: vom sinnenfälligen Denken (Phänomen) über die bewegte Vorstellung im Bild (Analogie) bis zu einer bildlosen Vorstellungsweise und reinen Begrifflichkeit (bildlose Erklärung). Dies ist der Weg der Naturwissenschaft, die ja auf diese Weise das Denken kräftigt, gestaltet und weitestgehend objektiviert. Wenn dies richtig gelingt, kann der Schüler sein Denken enorm stärken und entwickeln. Aufpassen muss man nur da, wo der Übergang von der beobachtbaren Natur zur Theorie, zum Modell geschieht, damit den Schülern dieser Punkt ganz klar wird. Hier kommt ja dann die Goethesche Farbenlehre hinzu, bei der dieser Übergang nicht vorhanden ist und bei der der Schüler in eine Denkweise eingeführt wird, die sich an den Phänomenen bildet. Dabei wird dann auch der »ganze Mensch«, also das Denken, das Fühlen und das Wollen des Schülers angeregt und nur das wahrgenommene Phänomen als Gesetzmäßigkeit formuliert. So finden wir bei genauer Betrachtung einen Weg in den Physik-Epochen der Oberstufe, der sich in die Stufen sinnliche Beobachtung, statisches Bild, bewegtes Bild, sinnlichkeitsfreies Vorstellen gliedert. Damit wird der Schüler denkerisch darauf vorbereitet, seine Vorstellungskraft bis zur Imagination zu steigern.
Zum Autor: Dietmar Kasper ist Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Rudolf Steiner Schule Mittelrhein.