Der Altarforscher

Treasa O’Driscoll

Für den Waldorflehrer Michael Schubert ist der Isenheimer Altar in Colmar zu einer Inspirationsquelle für seine Pädagogik geworden, von der er seit Jahrzehnten zehrt. In der Beschäftigung mit diesem Renaissance-Kunstwerk schulte er seinen Blick für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen und deren Behandlung. In der »Erziehungskunst« hat er über seine pädagogische Arbeit und Forschung mehrfach berichtet.

Der Isenheimer Altar ist vor mehr als 500 Jahren von Matthias Grünewald geschaffen worden. An der Wende zum 16. Jahrhundert wurde er im Auftrag von Guido Guersi, dem Prior des Antoniterordens, für die Kapelle des Hospiz-Klosters Isenheim gemalt und geschnitzt. Über die Lebensumstände des Malers und des Priors ist kaum etwas bekannt.

Der Isenheimer Altar war für unzählige Kranke, die an dem Antoniusfeuer litten – einer Krankheit, die durch den Verzehr von mit Mutterkorn vergiftetem Brot verursacht wurde – eine Quelle der Hoffnung und Heilung. Öffnet man die Altar-Flügel, bieten sich drei Ansichten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Als Sinnbild für himmlische Harmonie und die Heilkraft Christi stellen die Gemälde und das erhaltene Schnitzwerk auch noch heute ein Gegenmittel zu unseren täglichen Sorgen in einer Zeit globaler Unruhe dar. Wie jedes wahre Kunstwerk besitzt offensichtlich auch der Isenheimer Altar die Kraft zur Transformation der Seele des Betrachters. Die ständig wachsende Zahl der Besucher des Museums Unterlinden im elsässischen Colmar, in dem sich das Polyptychon seit 1853 befindet, zeugt von seiner dauerhaften Bedeutung als sublime und wegweisende künstlerische Schöpfung.

Wie andere große religiöse Gemälde der Renaissance, in denen ästhetische und spirituelle Werte identisch sind, wird in den äußerst dramatischen Darstellungen die inhärente Verbindung von Schönheit und Wahrheit durch eine inspirierte Kombination von Farbe und Form vermittelt. Die Schönheit dieser biblischen Bilder und die Geheimnisse, die ihnen zu Grunde liegen, lassen uns den Atem anhalten und rufen einen Zustand des Staunens, der friedlichen Ruhe und Dankbarkeit hervor. Diese Erfahrung von Schönheit geht über das hinaus, was Worte vermitteln können und führt den Sucher zur »Aletheia«. Das griechische Wort bedeutet so viel wie »Unverborgenheit« und impliziert Tiefen, in denen mehr zu ergründen ist, als was mit den Augen erfasst werden kann.

Genaue Beobachtungsfähigkeit

Die Realität einer solchen umfassenden Wahrnehmung hat sich im Leben Michael Schuberts ereignet, als er das Museum Unterlinden in Colmar entdeckte, das weniger als eine Autostunde von seinem Zuhause entfernt liegt. Als er 1975 zum ersten Mal vor dem Altar stand, wurde er durch das Kreuzigungsbild gänzlich unvorbereitet tief »erschüttert und überwältigt«. Er hatte weder einen religiösen Hintergrund noch gehörte er einer Konfession an und erlebte dennoch einen Moment der Epiphanie: Es erschien ihm das Göttliche. Er verstand, dass jede Geste, jedes Detail, jeder Pinselstrich dieses Altars bedeutungsvoll ist und nur schrittweise entschlüsselt werden kann. Auf Grundlage dieser Erkenntnis schulte Schubert seine Beobachtungsfähigkeit. Der Isenheimer Altar wurde dabei zur zentralen Grundlage für die Erforschung der unterschiedlichen Ur­sachen von Verhaltensstörungen. Tiefe Lebensfragen ergaben sich daraus und begründeten seine inzwischen seit mehr als vierzig Jahren anhaltende Grünewald-Forschung.

Allen Widrigkeiten trotzend, ist der Altar auf wundersame Weise seit nunmehr über fünfhundert Jahren erhalten geblieben. Er entging allen Kriegsgefahren und dem begehrlichen Zugriff von Königen und Sammlern. Vor Beginn der Französischen Revolution wurde er im Kloster Isenheim in Einzelteile zerlegt und in Colmar versteckt. So entging er den »Bilderstürmern«. Leider sind seither die geschnitzten Partien des Altars – insgesamt zwei Wagenladungen – nahezu vollständig verschollen. Im Ersten Weltkrieg deportierten ihn die Deutschen nach München, nach Kriegsende wurde er im französischen Colmar wieder aufgestellt. Als im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten den Altar in ein sicheres Versteck bringen wollten, fing das Transportfahrzeug Feuer und er wäre beinahe verbrannt.

Michael Schubert ging in seiner Forschung konsequent nach der goetheanistischen Methode vor, indem er die vielen rätselvollen Details immer wieder genau betrachtete und sie so lange im vorurteilsfreien, fragenden Besinnen bewegte, bis sich Antworten erschlossen, die er auch für seine Arbeit mit verhaltensgestörten Kindern fruchtbar machen konnte.

Sein künstlerisch-forschender Umgang mit der Waldorfpädagogik hat auch sein Verhältnis zu den Farben beeinflusst, die Goethe als »Taten und Leiden des Lichts« bezeichnete. Er ging davon aus, dass zwischen Farben und spirituellen Gegebenheiten eine direkte Beziehung besteht und dass große Künstler ein Bewusstsein dieser Beziehung haben. Grünewald ist eine Annäherung an das Wesen der Farben auf unnachahmliche Weise gelungen. Es bleibt bis heute dennoch ein Rätsel, wie er es bewerkstelligte, die Herrlichkeit und Glorie der Auferstehungsszene einzufangen, die dem morgendlichen Aufleuchten der Sonne vergleichbar ist.

Ich hatte das Privileg, an drei der vielen interaktiven Workshops teilzunehmen, die Schubert in den letzten zehn Jahren mit Hilfe seiner Frau Inka weltweit durchgeführt hat, und habe seine Meisterschaft darin bestaunt, die subtilen Themen des Altarbildes durch die große Bandbreite seines Wissens zu präsentieren.

Jüngst erschien eine vollständig überarbeitete und erweiterte englische Übersetzung seines Buches über den Isenheimer Altar, eine französische Ausgabe ist in Vorbereitung.

Zur Autorin: Treasa O’Driscoll ist irische Schriftstellerin und lebt seit vielen Jahren in Kanada. Einen Rückblick auf ihr außergewöhnliches Leben vermittelt ihr Buch »Celtic Woman – A Memoir of Life’s Poetic Journey«.

Literatur: M. Schubert: Der Isenheimer Altar. Geschichte – Deutung – Hintergründe, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2013; englische Ausgabe (2017) bei www.schneidereditionen.net