20. August 1919, abends: Rudolf Steiner begrüßt die erstaunlich kleine Teilnehmerschar. In letzter Zeit ist er es eigentlich gewohnt, vor über 1000 Zuhörern über die soziale Dreigliederung zu sprechen.
Aus so einem Vortrag, gerade vier Monate zuvor, war auch die entscheidende Impulsfrage zur Gründung der Waldorfschule gekommen. Aber dieses Zusammentreffen ist ihm anscheinend so wichtig, dass er sich dafür drei Wochen Zeit nimmt: Heute sitzen 24 Menschen vor ihm, auf Einladung gekommen, die das erste Waldorfkollegium bilden sollen. Alle werden im Lauf der nächsten achtzehn Tage über 45 Vorträgen und Seminaren beiwohnen, Hausaufgaben machen und Unterrichtsproben geben. Ob sie wirklich Waldorfschullehrer werden – das erfahren sie erst nach Abschluss des Kurses.
Steiner hat den Zyklus gegliedert: Den morgendlichen Kurs nennt er »Allgemeine Pädagogik« – den Titel »Menschenkunde« hat erst Jahre später Marie Steiner geprägt. Darin geht es um eine Art spirituelle Anthropologie: Wie lebt der Mensch? Wie entwickelt sich das Kind in der Dreigliederung von Seele, Geist und Körper? Nach dieser Grundlegung – die Psychologie, die Bewusstseinszustände und der physische Aufbau – geht es an »Methodisch-Didaktisches«. Diese Vorträge bilden das Herzstück des Kurses. Steiner spricht über erzieherische Gesetzmäßigkeiten und einzelne Fächer.
In den »Seminarbesprechungen« am Nachmittag finden wir an den ersten Tagen detaillierte Ausführungen über die vier Temperamente. Es folgen einige Angaben zu verschiedenen Fächern, etwa die Tier- und die Pflanzenkunde und immer wieder Geschichte und Geografie. Hier geht es darum, dass sich die Teilnehmer im Unterrichten üben – aber auch im selbstständigen Erarbeiten des Unterrichtsstoffes, denn Schulbücher soll es in der Waldorfschule nicht geben.
Steiner bezeichnet in seiner Ansprache die neue Schulgründung als eine »Kulturtat«, als eine »Erneuerung unseres Geisteslebens der Gegenwart«. Ganz unerwähnt, aber sehr wesentlich ist für diesen Gedanken, dass in der Waldorfschule die Eltern der Kinder eine aktive Rolle spielen sollen. Steiner hält auch ihnen im Lauf dieser Wochen Vorträge und wird in den kommenden Jahren das Kollegium immer wieder ermutigen, beim pädagogischen Umgang mit den Kindern deren Elternhaus mit einzubeziehen. Staatliche Schulen taten das nicht, und viele Lehrer würden auch heute noch zurückschrecken, wenn man ihnen von der engen Verbindung, der professionellen Freundschaft der Klassenlehrer mit den Eltern, von Gesprächen, die weit über den Tellerrand von Unterricht und Schule hinausgehen, berichtet.
Mit der »Lehrerrepublik« stellt Steiner einen weiteren revolutionären Gedanken vor: Waldorfschulen sollen von ihren Kollegien in Selbstverantwortung geführt werden – ein Anspruch, um den wir bis heute ringen. Dafür sollen die Lehrer »ihre volle Persönlichkeit einsetzen«. Das macht Schule anders – ganz anders.