Wenn Lehrer vor solchen Rätseln stehen und in ihren Bemühungen nicht weiterkommen, kann eine Kinderbesprechung weiterhelfen. Neben den beteiligten Lehrern und meist den Eltern sind auch der Schularzt und Therapeuten anwesend. Was können medizinische Gesichtspunkte den pädagogischen hinzufügen? Es ist die Aufgabe des Schularztes, die seelischsoziale Sicht des Pädagogen durch die körperlichindividuelle des Arztes zu ergänzen. Selbstverständlich schaut der Pädagoge jedes Kind individuell an, aber er geht doch primär von der Klasse, der Gruppensituation und dem damit verbundenen Verhalten aus. Er sieht das Kind vor diesem Hintergrund. Die Sichtweise des Arztes ist schon durch die äußeren Umstände anders: Er sieht das Kind meist im Schularztzimmer ohne die Klassenkameraden und auch bei einer Hospitation ist seine Aufmerksamkeit vor allem einzelnen Kindern gewidmet. Nun ist das Ziel der Kinderbesprechung, das Kind in seiner Ganzheit zu erkennen. Dazu muss neben dem seelischsozialen der physischleibliche Anteil betrachtet werden. Das ist der Beitrag des Schularztes. Die Waldorfschule macht die Entwicklung des Kindes, nicht nur die intellektuelle und seelische, sondern auch die physiologische, zur Grundlage einer altersgemäßen Pädagogik mit einem altersspezifischen Lehrplan. Durch die »Menschenkunde« komme ich zu einem ganzheitlichen Betrachten des Kindes, zu einer wirklichen Psychosomatik. Betrachte ich die Bewegung des Kindes im Verhältnis zu seiner logischen Denkfähigkeit, so kann ich beobachten, dass zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr das Zentrum der Entwicklungsdynamik im rhythmischen System, das heißt in den Bewegungen des Kreislauf- und Atemsystems liegt. Es besteht ein enges Verhältnis zwischen der Muskulatur und dem Rhythmus dieser beiden Organsysteme. Das Kind lebt nur von dem, was ihm im künstlerischen Gewand aus der Welt und aus der Pädagogik entgegenkommt. Alles, was nicht Rhythmus und Takt hat, kann das Kind nicht aufnehmen. Gut zu beobachten ist, wie jüngere Kinder Geschichten, Lieder, kleine Spiele immer wiederholen wollen. Das einmal Erlebte geht an ihnen vorbei. Wenn das Kind das zwölfte Lebensjahr überschritten hat, ändern sich seine Bewegungen. Vorher waren sie zentriert, rhythmisch, wie eine Gesamtgestalt von innen heraus geführt. Jetzt, wenn die Extremitäten zu wachsen beginnen, werden die Bewegungen ungelenk, schwer, mechanisch. Sie gehen nicht mehr von der Muskulatur aus, sondern von dem Skelettsystem, das nun dominiert. Jetzt hat sich der geistigseelische Mensch, das vorgeburtliche Ich, in das Skelett hineinbegeben. Diese Auseinandersetzung des Jugendlichen mit der Schwere in seinem Skelett bringt seinen Organismus in die Lage, Mechanisches, Dynamisches und Logisches denken zu können.
Dieses Denken findet erstaunlicherweise eben im Leib, das heißt im Skelett statt, und wird nur im Gehirn ins Bewusstsein gehoben. In der Vorschulzeit liegt der Entwicklungsschwerpunkt im Kopfbereich. Nach dem Zahnwechsel wandert die Entwicklungsdynamik in den Brustbereich, in das rhythmische System, das sich im zweiten Jahrsiebt entwickelt, wie sich das Nerven-Sinnessystem im Kopfbereich im ersten Jahrsiebt entwickelt hat. Diese Entwicklung wird angestoßen durch die vorgeburtlichen seelischgeistigen Kräfte, die im Verlauf der Kindheit und Jugendzeit den Menschen vom Kopf über die Brust und dann zum Schluss im Stoffwechsel-Gliedmaßen-Bereich gestalten. Um das Beispiel von Xaver wieder aufzugreifen: Ist sein Verhalten altersgemäß? Oder steht ein individuelles Problem, seiner Entwicklung im Wege? Die Menschenkunde kann zu einem Spiegel werden, der hilft, das einzelne Kind zu sehen. Wenn die körperlich-menschenkundlichen Aspekte für die Erziehenden nicht zugänglich sind, besteht die Gefahr, schnell in eine psychologisierende Haltung hineinzuschlittern, die nach einsehbaren Gründen und Schuldzuweisungen sucht. Denn es besteht im gesellschaftlichen Umgang mit kindlichen Schwierigkeiten – durchaus auch in der Waldorfschule – ein sehr enges Verständnis von so genannter normaler Entwicklung, wobei einem Kind gerne schnell Diagnosen angeheftet werden zum Beispiel ADS oder autistische Züge. Durch die Menschenkunde und auch die Einbeziehung karmischer Aspekte können wir die Kinder etwas tiefer und mit mehr Wärme betrachten.
In der Betrachtung von Xaver kam aus medizinischer Sicht Folgendes zum Vorschein: In der Bewegung zeigt er einen Duktus wie ein Kleinkind. Das Kind im ersten Jahrsiebt bewegt sich vom Kopf aus, ähnlich wie eine Marionette, deren Extremitätenwie unverbunden mit dem Körper ihre Bewegungen ausführen. Kopf, Rumpf und Extremitäten bewegen sich nicht zusammenklingend, nicht wie aus einem Guss. So bewegt sich Xaver immer noch. Von seiner Gestalt her ist er ein großköpfiges Kind, also auch körperlich dem Kleinkindlichen zugeneigt. Als er vor zwei Jahren eingeschult werden sollte, kam eine Zurückstellung nicht in Frage: intellektuell und motorisch war er schon zu weit entwickelt. Die Kinderbesprechung ergab einige neue Erkenntnisse. Xaver weicht in seiner Bewegungsentwicklung von seinen Klassenkameraden ab. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine neurologische Erkrankung, sondern um den Bewegungsduktus, die Bewegungsgestalt. Die Teilleistungsstörungen und psychosozialen Defizite, die in der Kinderbesprechung offenkundig wurden, können nun durch konkrete medizinische und pädagogische Maßnahmen angegangen werden. Insgesamt ermöglichte die Kinderbesprechung ein vertieftes Verständnis Xaver gegenüber. Die Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen, ist das Tor zum Heilen. Dies drückt der Satz aus: »Erziehen ist leises Heilen, Heilen ist spezialisiertes Erziehen.« Dieser Heilimpuls liegt der Waldorfpädagogik zu Grunde. Steiner wollte durch diese Pädagogik ermöglichen, dass die Kinder zu gesunden Erwachsenen heranwachsen, wodurch sie sich eher zu freien Menschen entwickeln können. Die Sichtweise des Schularztes ist eine Hilfe auf diesem Weg.
Zum Autor: Christoph Buschmann ist Schularzt an der Freien Waldorfschule Augsburg und Allgemeinarzt in einer Gemeinschaftspraxis.