Der englische Patient

Sven Saar

In den 1980-90er Jahren war Großbritannien ein guter Ort für die Waldorfpädagogik: Am Emerson College in Sussex lernten viele internationale Studenten die Anthroposophie kennen und bereiteten sich auf Pionierarbeit in ihren Ländern vor – damals gab es nur wenige englischsprachige Ausbildungsorte in Europa, in Lateinamerika oder Asien. Francis Edmunds und Georg Locher waren zentrale Figuren in der weltweiten Verbreitung dieses Impulses und die friedliche Parklandschaft in Südengland ein Ort der Inspiration und Erneuerung. Auch im Vereinigten Königreich selber wuchs die Bewegung: Waren es jahrzehntelang nur sechs Schulen, die tief in der Anthroposophie verwurzelt und oft recht »deutsch« geprägt waren, erschien durch die Aussteigerbewegung der siebziger und achtziger Jahre ein neuer, selbstbewusst angelsächsischer Duktus. In diesen meist kleinen Schulen nannten sich alle – Schüler, Eltern und Lehrer – beim Vornamen. Das Schulgeld war oft freiwillig oder konnte durch Eigenleistungen ersetzt werden, und das soziale Wohl aller stand im Vordergrund. Inzwischen gibt es in Großbritannien und Irland über 30 Waldorfschulen, von denen sich die meisten völlig aus Elternbeiträgen finanzieren müssen.

Das Privatschulwesen hat in England große Tradition: Obwohl insgesamt nur sieben Prozent der britischen Kinder eine private Schule besuchen, schauen ein Drittel der Politiker, die Hälfte aller Minister und einflussreichen Journalisten und drei Viertel aller Richter auf eine nichtstaatliche Schulbildung zurück. Das heißt aber keineswegs, dass die Briten generell offen für alternative Erziehung wären: Fast alle diese Schulen folgen konventionellen Lehrplänen. Allerdings bedienen und erzeugen sie ihrerseits eine wirtschaftliche und intellektuelle Elite, die das kulturelle und politische Leben auf der Insel entscheidend beeinflusst. Schickt man seine Kinder auf die –immer noch weithin unbekannte – Waldorfschule, wendet man sich bewusst gegen dieses System und muss den Freunden und Verwandten mühsam erklären, dass es sich nicht um Schulen für schwererziehbare, lernbehinderte oder künstlerisch hochbegabte Kinder handelt.

Geldmangel und staatliche Überwachung

Das tägliche Leben für britische Waldorflehrer war schon immer voller Herausforderungen. Vor allem die Tatsache, dass die meisten Eltern sich ein realistisch bemessenes Schulgeld nicht leisten können, führt zu ständigem Geldmangel. An meiner ersten Schule im Norden von England verkauften wir jedes Jahr ein Stück vom Schulgarten, um die Augustgehälter bezahlen zu können. Als dann kein Land mehr übrig war, entließen wir uns im Juli alle und gingen im Sommer stempeln, bis uns die Schule im September wiedereinstellen konnte. Der Unterschied für meine Familie zwischen Vollbeschäftigung und Arbeitslosengeld: 20 Pfund die Woche! Unter diesen Bedingungen ist alle Waldorfpädagogik in diesem Land Pionierarbeit, auch wenn es die älteste Schule schon seit 1925 gibt.

Der Geldmangel ist aber nicht das einzige Problem: Seit etwa 20 Jahren etabliert sich in diesem Land mehr und mehr ein System, das den Erfolg im Erziehungswesen durch Prüfungen und Überwachung zu garantieren sucht. Sein Ideal ist, dass der Fortschritt eines jeden Kindes jederzeit gemessen und verfolgt werden kann. Zuständig für dieses System ist das Office for Standards in Education (OfSted), das regelmäßige Überprüfungen in allen englischen Schulen durchführt. Die resultierenden Berichte sind für alle öffentlich zugänglich und mittlerweile für viele Engländer entscheidend, wenn es um die Wohnortwahl geht. Die Schulen fürchten die OfSted-Inspektionen, in denen Stunden­planung, Schüleran- und -abwesenheit, Fortschritte und Prüfungsergebnisse akribisch nachgewiesen werden müssen, und in denen penibel auf Effizienz in der Verwaltung, Risikoanalysen für Aktivitäten und Klassenfahrten, Sicherheit des Schulgeländes und Qualifikationen des Personals geachtet wird. Diesem System müssen sich auch die Waldorfschulen unterwerfen, und für jede Überprüfung durch Regierungsbeamte alle paar Jahre tausende Pfund an Gebühren zahlen.

Jeder, der im Königreich regelmäßig mit Kindern in Kontakt kommt, muss ein entsprechendes Führungszeugnis vorweisen, das auch nicht billig ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es kaum noch Möglichkeiten für Austausche mit Schülern aus anderen Ländern gibt. In jeder Gastfamilie müsste für alle Hausbewohner über 16 ein solches Zeugnis beantragt werden, was für die meisten Schulen ein unüberwindbares finanzielles Hindernis darstellt.

Einige wenige Waldorfschulen – wie zum Beispiel Ringwood im Süden Englands – haben entsprechend investiert und spezialisieren sich inzwischen darauf, ausländische Schüler in ihre Oberstufe aufzunehmen. Sie haben ein erfolgreiches Konzept entwickelt, in welchem nicht zuletzt auch die eigenen Schüler sehr vom internationalen Flair profitieren.

Englische Schulen – deutsche Schulen

Nach fast zwanzig Jahren in England wollte ich sehen, wie anders das Leben als Waldorflehrer in Deutschland ist und fand hier völlig neue Herausforderungen – zu meinem großen Erstaunen deutlich mehr Freiheit, aber auch, unter Eltern und Lehrern, einen zunehmenden Fokus auf das Abitur und weniger auf das harmonische soziale Miteinander. In den britischen Schulen – auch vielen staatlichen – gibt es wöchentliche »assemblies«, Versammlungen, in denen Geburtstage gefeiert, Geschichten erzählt und Lieder gesungen werden. Man sitzt nicht wie bei der Monatsfeier im Publikum, sondern miteinander im Kreis und kennt sich. Nicht selten wissen in den kleineren Schulen alle Schüler die Namen von allen anderen, unabhängig vom Alter.

Früher, schneller, effizienter

Nach acht Jahren Deutschland zog es meine Frau und mich wieder auf die Insel. Hier arbeite ich als Klassenlehrer und in der Aus- und Weiterbildung und muss erkennen, dass die Herausforderungen für meine Kollegen und mich im vergangenen Jahrzehnt deutlich gewachsen sind. Mehrere Waldorfschulen haben ihre Türen aus Geldmangel schließen müssen, und einige sind akut von der Schließung bedroht. Generell ist es immer schwieriger geworden, in Großbritannien eine unbeschwerte Kindheit zu durchleben.

England war im 19. Jahrhundert eines der letzten europäischen Länder, das die allgemeine Schulbildung verpflichtend einführte, und bis heute gilt hier das Motto: früher, schneller, effizienter. Die staatliche Schule beginnt im fünften Lebensjahr, und von Beginn an werden die Kinder in Uniformen gekleidet, die durch ihren Zwang zum Tragen von Jacketts, Schlipsen, weißen Hemden und schwarzen Schuhen das Kind vor allem zum Mini-Erwachsenen machen wollen (die Waldorfschulen machen das übrigens nicht mit).

Zu den vielen staatlichen Prüfungen, die das Kind durchlaufen und bestehen muss, kommen noch die physischen und metaphorischen Zäune: Die britischen Boulevardzeitungen haben das Thema der Kindesmisshandlung so zum Dauerbrenner gemacht, dass inzwischen um jede englische Schule, um jede Tagesstätte, um jeden Kindergarten eine sichere Barriere gezogen sein muss, die man nur durch Klingeln und Anmeldung an der Rezeption überwinden kann. Alle Lehrer, besuchende Eltern oder Handwerker müssen durch Ausweiskarten klar erkennbar sein. Als OfSted vor kurzem der traditionsreichen Kings Langley Rudolf Steiner School mit der Schließung drohte, waren unter den Hauptkritikpunkten, dass hier Erwachsene ohne Ausweiskarten herumliefen, und dass Kinder außerhalb der Schulzeiten Kontakt mit Lehrern hatten – als sei das an sich schon verdächtig und verwerflich. Riefe hier ein Rudolf Steiner wie damals in Stuttgart in die versammelte Schülerschaft »Habt Ihr Eure Lehrer lieb?«, müsste er vermutlich um seinen Job zittern …

Zwischen Management und Inspiration

Die Waldorfschulen können sich vielen dieser Auflagen nicht entziehen, und das tägliche Leben ist voller Kompromisse. Im allgemeinen Kulturleben kann man den Eindruck bekommen, die Gesellschaft traue Erwachsenen jede Schandtat, den Kindern aber gar nichts zu: Kaum ein Kind geht in diesem Land unbeaufsichtigt irgendwo hin. Neun von zehn Grundschülern werden von ihren Eltern zur Schule gebracht und wieder abgeholt. In den Kollegien fürchtet man die OfSted-Inspektionen. Längst ist die von Steiner angestrebte Selbstverwaltung unmöglich geworden. Jede Waldorfschule braucht einen regelrechten Verwaltungsapparat, um dem bürokratischen Aufwand gerecht zu werden. Trotz Geldnöten leisten sich inzwischen viele Schulen einen hochbezahlten Direktor, der sich ganz dem Management und dem Kontakt mit den staatlichen Stellen widmen kann. Jede britische Waldorfschule – wie überhaupt jede Waldorfschule in der Welt – ist prinzipiell frei. Sie kann sich so gestalten, wie es die Gesetzeslage in ihrem Land erlaubt und muss sich nicht an ihren Nachbarn orientieren. So heißt der britische Waldorfschulverband schon immer »Fellowship«, also »Gemeinschaft«. Die Schulen betrachten sich als Geschwister und bilden mittlerweile eine bunte Familie: Einige haben den ewigen Kampf um die Selbstverwaltung aufgegeben und sich eine hierarchische Struktur zugelegt, andere experimentieren noch mit neuen Formen der Verantwortung, wieder andere versuchen die Schule noch rein in Lehrerhand zu führen.

Seit einigen Jahren gibt es außerdem vier »Steiner Academies«: Waldorfschulen, die zwar unzureichend, aber voll staatlich finanziert sind und viele Kompromisse mit dem Staat eingehen, damit die Eltern ihrer Schüler kein Schulgeld zahlen müssen. Hier gibt es keinen Elitismus, kein Auswahlverfahren: Jedes Kind, für das es einen Platz gibt, muss aufgenommen werden. Um in diesem System ihre intuitiven Arbeitsweisen und ihre Kreativität am Leben zu erhalten, müssen die Lehrer noch viel stärker an ihren Idealen arbeiten.

So ist auch das Thema der diesjährigen britischen Lehrertagung »Sources of Inspiration« (Quellen der Inspiration) zu verstehen: Wie kann man es schaffen, den wunderbar kreativ und sozial veranlagten britischen Waldorfschülern (und ihren Eltern) die Kindheit zu bewahren? In einer Kultur, die sich dem »safeguarding«, der »Absicherung« von Kindern verschrieben hat, aber weit von einer Erziehung zur Freiheit entfernt ist, können und müssen die Waldorfschulen wichtige Impulse setzen und zeigen, dass es auch anders geht.

Zum Autor: Sven Saar ist an der Steiner Academy Hereford in Großbritannien als Klassenlehrer und in der Ausbildung tätig.