Der Maßstab ist das Kind. Inklusion in der Krippe

Brigitte Huisinga

Deshalb muss der Umgang mit dem einzelnen Kind individuell sein.

Baut die Betreuerin feinfühlig eine Beziehung zum Kind auf, kann sich dieses im Kontakt auf seine Art äußern und von seinem Entwicklungsstand aus mitwirken. Es bekommt Hilfe, wenn es Hilfe benötigt, aber erlebt sich selbstwirksam, wenn die Betreuerin seine eigenen Impulse aufgreift und unterstützt.

Im Spiel und in der Bewegung erlebt es sich im Umgang mit seinem eigenen Körper und den es umgebenden Gegenständen und Spielmaterialien. Die Betreuerin muss erkennen, was das Kind braucht, um sich mit der Welt auseinandersetzen und seine Sinne schärfen zu können.

Das alles gilt auch für Kinder mit besonderen Bedürfnissen oder Behinderungen.

Für die Eltern dieser Kinder ist es nicht leicht zu sehen, dass sich ihr Kind anders entwickelt oder im späteren Leben mit Beeinträchtigungen umgehen muss. Sie suchen alle erdenklichen Fördermaßnahmen für ihr Kind. Kinder und Eltern erleben einen unruhigen Alltag, der für beide Seiten anstrengend und defizitorientiert ist.

Die Krippeneltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen leiden häufig daran, dass andere Kinder die ihrigen in der Entwicklung überholen. Der verengte Blick auf die Defizite erzeugt Trauer. Verständnis und Verständigung, Gespräch und Austausch über die kleinen Freuden sind für Eltern und Betreuerinnen hilfreich. Auch die Eltern betroffener Kinder brauchen die Inklusion.

Entscheidend ist der Blick auf das Kind

Bei der Gründung der Wiegestube in Niederursel in Zusammenarbeit mit der Frühförderstelle »Haus des Kindes« wollten wir insbesondere diesen Kindern und Eltern eine Möglichkeit bieten, in einem »normalen« Umfeld zu leben.

Es kommt nicht darauf an, wie alt und auf welchem Entwicklungsstand ein Kind ist, sondern ausschließlich auf die achtsame, feinfühlige Sichtweise der Betreuerin, die dem Kind immer wieder Signale sendet, dass sie sieht, was es schon kann, wo es mitwirken will und wann es Hilfe braucht. Mitwirkung ist manchmal kaum sichtbar, aber die Basis der späteren Selbstständigkeit.

Im freien, autonomen Spiel sucht sich jedes Kind das, was es für seine jeweilige Entwicklung braucht. Die Aufgabe der Erzieherin ist es, geschützte Bereiche anzubieten und Spielmaterial, das der Entwicklung förderlich ist. Sie hat dafür zu sorgen, dass sich die Kinder nicht gegenseitig stören und dennoch wahrnehmen können.

Die Bedeutung der Zeit

Eine entscheidende Rolle spielt die Zeit. Ein rhythmisch gegliederter Tagesablauf muss die individuellen Bedürfnisse einer kleinen Krippengruppe von bis zu zehn Kindern berücksichtigen. Es muss möglich sein, einem Kind mit besonderen Bedürfnissen mehr Zeit und Unterstützung zu geben, bis es vielleicht zum ersten Mal den Löffel selbst in die Hand nimmt oder zum Mund führt. Möglicherweise akzeptiert es auch längere Zeit nur eine Speise und man braucht viel Geschick und Geduld, es behutsam an andere Kost heranzuführen.

Die Erzieherinnen lernen zusammen mit den Kindern, kleinste Entwicklungsschritte zu erkennen und sich an ihnen zu erfreuen.

Nicht drängeln

Simone kam mit knapp zweieinhalb Jahren in die Krippe. Sie konnte sich nicht selbstständig bewegen und sprechen und musste gefüttert werden. Ihr Entwicklungsstand entsprach dem jüngsten Kind, das sie im ersten Jahr weit überholte, aber Simone lernte krabbeln, sich aufzustellen, am Gitter entlang zu laufen, selbstständig ins Essbänkchen zu steigen und den Löffel zu ihrem Mund zu führen.

Sie bewältigte die Treppe hoch und runter und kletterte am letzten Tag nach zwei Jahren von außen in ein Gitterbett.

Kleinste Schritte im Laufe von zwei Jahren, in denen sie immer wieder in Ruhe mit Ausdauer in ihrem Tempo geübt hat, haben allmählich zu diesen Fähigkeiten geführt. Die Erwachsenen haben diese mit Interesse, ohne zu drängeln und ohne auf den nächsten Schritt zu warten, wahrgenommen und unterstützt.

Inklusion in der Krippe braucht keine Personen, die speziell für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen zuständig sind, aber Bedingungen, die den individuellen Umgang mit jedem Kind ermöglichen. Sie benötigt Zeitabläufe und räumliche Voraussetzungen, die ruhiges, ungestörtes Spiel und selbstständige Bewegung zulassen. Und sie benötigt fachliche Begleitung und Beratung für die Betreuerinnen.

Da die Kinder mit besonderen Bedürfnissen in den meisten Fällen in Früh­förderstellen oder Sozialpädiatrischen Zentren gefördert werden, besuchen die

Therapeutinnen die Krippe. Das Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes mussein gemeinsames Anliegen sein. Im Gespräch mit der Therapeutin kann die Betreuerin gestärkt werden und Hinweise bekommen, wie sie das Kind unterstützen kann.

Brigitte Huisinga ist Gründerin und Leiterin der »Wiegestube« am hof-Niederursel und dort in der Familienbildungsarbeit tätig.