Wie alles begann
Im März 2004 war Wolfgang Schad von der Universität Witten/Herdecke erstmals zu Besuch in Sekem. Am dritten Tag seines Aufenthalts machte er gegen Abend einen Ausflug in die nahe gelegene Adleya-Wüste. Dort gelang ihm ein herausragender Fund: zahlreiche graubraune Tonscherben, in deren Mitte eine aus Feuerstein geschlagene Lorbeerblattspitze offen auf dem Wüstenboden lag. Die Scherben ließen sich zu einer fast vollständigen Tonschale mit Standfuß zusammenfügen. Die Lorbeerblattspitze und die Schale konnten später auf ein Alter von rund 5.500 Jahren v. Chr. datiert werden. Der Fund ist demnach um gut 2.500 Jahre älter als der Beginn der ägyptischen Pharaonenkultur.
Weitere altsteinzeitliche Funde direkt auf den Feldern von Sekem kamen hinzu. Das Besondere ist ihr mehrheitlich archaisches Formenspektrum und das damit einhergehende sehr hohe Alter. Die urtümlichen Formen sind wahrscheinlich der Grund dafür, dass in den 25 Jahren zuvor noch niemand steinzeitliche Artefakte auf der Sekem-Farm erkannt hatte. Bisher waren vergleichbare Funde aus Unterägypten auch in der Fachwelt unbekannt. Wolfgang Schad schlug damals Ibrahim Abouleish, dem Begründer von Sekem, vor, ein Museum einzurichten. Die Idee wurde begeistert aufgenommen und in den darauffolgenden Jahren mit vielen Helfern realisiert. Heute befindet sich das Museum in den Räumen des Berufsbildungszentrums von Sekem.
Die Exponate
Durch zahlreiche Exkursionen in gut erreichbare Wüstengebiete nahmen die Ausstellungsstücke von Jahr zu Jahr zu. Mittlerweile befinden sich in dem Museum mehrere tausend vom Urmenschen beschlagene Steine, von denen etwa 1000 auf den Äckern der Sekem-Farm gefunden wurden. Außerdem beinhaltet es einige Vitrinen zur Geologie und Paläontologie Unterägyptens, in denen sich zahlreiche Fossilien aus dem Tertiär befinden wie Muscheln, Schnecken, versteinertes Holz, aber auch die Schädelreste und Rippen einer Seekuh, die vor etwa 44 Millionen Jahren dort lebte. In einer anderen Vitrine liegen die Überreste eines großen Nilkrokodils, das wahrscheinlich in der Pharaonenzeit kultisch beigesetzt wurde. Sie stammen aus dem Fayum, der damaligen Kornkammer Ägyptens, in welcher der krokodilköpfige Gott Sobek verehrt wurde.
Neben den Funden vor Ort konnten zahlreiche Steinartefakte vor allem aus der Ostwüste zwischen dem Nil und dem Golf von Suez geborgen werden. Dazu gehören 30 Faustkeile, die ausschließlich an der Abbruchkante einer Schichtstufe im Wadi Hagul gefunden wurden und für Unterägypten eine große Besonderheit darstellen.
Die Bedeutung der Steinzeitartefakte
Die auf Sekem gefundenen Artefakte stammen alle aus der Altsteinzeit. Das Formenspektrum erstreckt sich von großen und groben Handstücken mit nur einer oder wenigen Abschlagflächen der frühen Steinzeitkulturen (klassische Geröllgeräte des Oldowan) über grob zugehauene archaisch wirkende Proto-Faustkeile, bis hin zu sorgfältig fein geschlagenen, relativ kleinen Artefakten: Schaber, Kratzer, Bohrer, Spitzen und Klingen. Sie wurden alle aus dem hier vorkommenden Feuerstein hergestellt. Klassische Faustkeile, wie im Wadi Hagul, wurden auf Sekem nicht gefunden. Besonders die urtümlichen Geröllgeräte aus natürlichen Steinknollen, von denen treffsicher mindestens ein Abschlag abgetrennt wurde, so dass eine scharfe Arbeitskante entstand, machen dagegen einen viel archaischeren Eindruck.
Derart alte Geröllgeräte aus Unterägypten waren bisher ebenfalls weitgehend unbekannt. Aus den letzten Jahrzehnten liegen keinerlei wissenschaftliche Arbeiten zur frühen Altsteinzeit Ägyptens vor, was das Interesse des französischen Archäologen Jean-Marie Le Tensorer weckte, der uns mit seinem Team zweimal nach Sekem begleitete und die Funde wissenschaftlich erfasste. Die archaischen Funde von Sekem wurden auf ein Alter zwischen etwa 1 bis 1,8 Millionen Jahren geschätzt. Eine wissenschaftliche Publikation ist in Vorbereitung.
Die Wanderwege des frühen Menschen
Wir wissen heute, dass die Gattung Homo im tropischen Afrika entstanden ist und vor fast zwei Millionen Jahren nach Vorderasien in die Levante auswanderte. Den damaligen Menschen nennen wir Homo erectus. Die Out-of-Africa-Theorie steht daher in jedem Biologielehrbuch und ist ein wichtiges Thema in der Humanevolution der 12. Klasse und oft auch in den Prüfungsklassen der Waldorfschule. Schon ein Blick auf die Karte lässt vermuten, dass der Mensch auf dieser ersten interkontinentalen Wanderung in seiner Geschichte die Region zwischen dem heutigen Nildelta und dem Sinai durchquert haben muss. In diesem Gebiet liegt Sekem. Die dortigen Funde sind deshalb wissenschaftlich relevante Belegstücke für die früheste Auswanderung aus Afrika. Dieser ersten Auswanderungswelle folgten weitere. Auch über Gibraltar und das Horn von Afrika verließ der Mensch – vermutlich etwas später – den afrikanischen Kontinent. Aber nicht nur dieser frühe Homo erectus stammt aus Afrika, sondern auch unsere heutige Art, Homo sapiens. Soweit wir wissen, verließ er ebenfalls über Vorderasien vor ungefähr 50.000 Jahren den Kontinent.
Das Land zwischen dem Ostrand des Nildeltas und dem Golf von Suez stellte daher mehrfach das Durchwanderungsgebiet der Urmenschheit auf dem Weg von Afrika nach Asien und Europa dar. Damals war es nicht trockene Wüste wie heute, sondern zumeist steppenartiges Grasland. In dieser Landschaft stellte der umherziehende Mensch die Steingeräte für seinen täglichen Bedarf her.
Der meist geringe Abrollungsgrad der Artefaktkanten in Sekem spricht für die Herstellung auf dem Fundgelände selbst.
In der Humanevolution der 12. Klasse kann dieses Projekt gut thematisiert werden, eventuell im Einklang mit dem Geographieunterricht, indem die Besonderheiten der Wirtschafts- und Sozialform der Sekem-Initiative besprochen werden.
Das Sekem-Museum ist mittlerweile Teil der noch jungen Heliopolis University for Sustainable Development. Damit soll es ägyptischen Schülern und Studenten die Geschichte der Natur, ihre Artenvielfalt und Schönheit und die Bedeutung ihres Landes in der frühen Menschheitsentwicklung näherbringen. Und wer von Europa nach Sekem reist, sollte nicht vergessen, dem kleinen Museum einen Besuch abzustatten.
Zum Autor: Dr. Benjamin Bembé war Lehrer für Biologie und Erdkunde an der Freien Waldorfschule Landsberg. Heute ist er Mitarbeiter im Institut für Evolutionsbiologie an der Uni Witten/Herdecke mit einem Projekt zur Förderung des »Goetheanismus im Unterricht der Waldorfschulen«.