Der Hase und die Aufmerksamkeit
Hoffentlich haben Großstadtkinder schon alle einmal einen Hasen beobachten können. Welcher Mensch wäre nicht entzückt, wenn spielende, männchenmachende Hasen am Waldrand zu beobachten sind! Das gelingt nicht so leicht, denn der Hase hat ein außerordentlich feines Gehör, er ist »ganz Ohr«. Die Augen sehen nicht scharf, man sagt sogar, er schliefe mit offenen Augen. Unaufhörlich horcht er, was die Umwelt zu sagen hat, witternd und wie ein Sinnbild der Wachsamkeit spiegelt er deren Bewegung. In sie hinein lauscht er mit seinen langen, hochgestellten, vor Aufregung manchmal geradezu zitternden Ohren.
Der sanfte Hase tut keinem Tier etwas zuleide. Er schreit nie, außer in Todesnot. Er hat kein Haus, sein Lager ist heute hier und morgen dort, er ist heimatlos, der Himmel sein Dach. Die Zahl seiner Feinde ist groß. Jäger und Hunde stellen ihm nach. Er läuft schneller als ein Rennpferd. Ruhelos und von Furcht gehetzt, verhält sich der Hase scheu und nervös. Sieht er aber einen verfolgten Kameraden, der nicht mehr weiterkann, so springt er mutig statt seiner hinaus, täuscht hakenschlagend die hetzenden Hunde oder den Fuchs. Während der andere sich verbirgt, rennt er für den ersten weiter und rettet so den Bruder. Oft muss er sein Leben dafür lassen. Daher stammt der Ausdruck »für jemanden ins Feld springen«, wenn man sich für jemanden opfert.
Unser Osterhase bringt und versteckt die Ostereier. Er legt nicht das Ei, aber er darf es bringen. Während am Weihnachtsfest das Christkind die Geschenke auslegt, sie also da sind, versteckt der Osterhase die Eier: Sie wollen gesucht sein. Denn das Geheimnis von Tod und Auferstehung im Ostergeschehen ist »eine verborgen wirksame Tatsache« (Steiner), die wir Menschen erst suchen und finden müssen.
Ostereier sind keine gewöhnlichen Hühnereier. Mit leuchtenden Farben oder schönen Formen sind sie geschmückt. Bunt sind die Eier, weil aus ihnen die farbenfrohe Bilderwelt der Imagination schlüpft, die vom Mond erregte Phantasie. Im goldenen Dotter können wir eine kleine Sonne sehen und das Eiweiß erinnert uns an den silbrigen Schein des kühlen Mondes.
Aus dem Ei entsteht neues Leben. Das weiß jeder, der einmal erlebt hat, wie es in einem ausgebrüteten Ei piept und pickt, bis die harte Schale zerbrochen wird und ein goldgelbes Küken herauskommt, das gleich seinen Kopf in die Höhe reckt. Neues Leben bricht durch die harte Schale und lässt die tote Hülle zurück.
Dieses neue Leben, das aus einem einzelnen Ei entsteht, entsteht für die ganze Erde durch das Geheimnis des Osterfestes. Etwas von diesem Geheimnis erleben wir alljährlich in der erneuernden Lebenskraft des Frühlings, der um uns her nach der Winterkälte alles wieder wachsen und blühen lässt.
Soweit eine Erzählung für jüngere Kinder. Das Hasenmotiv ließe sich in einer zweiten Stufe fortführen, denn am Himmel gibt es einen Wandelstern, der »schneller läuft« als die übrigen. Der Mond ist so etwas wie der Hase am Himmel. So manche Legende aus fernen Ländern erzählt vom »Hasen im Mond«.
Der Hase als Sinnbild für Wandlungsprozesse
Folgende Erzählung aus Indien drückt eine märchenhafte Wahrheit aus: »Da lebte einmal Buddha als Hase, und es war an der Zeit, in welcher die verschiedensten Wesen nach Nahrung suchten, aber alle Nahrung war aufgezehrt. Was der Hase selbst als Nahrung haben konnte, die Pflanzen, war aber für Wesen, die Fleischfresser waren, nicht geeignet. Da beschloss der Hase, der eigentlich Buddha war, als ein Brahmane kam, sich selbst zu opfern und sich als Nahrung hinzugeben. In diesem Augenblick kam der Gott Shakra; der sah die gewaltige Tat des Hasen. Und ein Bergspalt öffnete sich und nahm den Hasen auf. Nun nahm der Gott eine Tinktur und zeichnete das Bild dieses Hasen auf den Mond. Und seit jener Zeit ist das Bild des Buddha als Hase im Monde zu sehen« (nach Steiner).
Auch hier erscheint der Hase als Symbol des Opfers: ein »Gegen-die-Natur-Handeln«, gegen die Hasennatur in uns; man nennt »Hasenfuß« jemanden, der ängstlich ist. Für die Kinder geeigneter zu erzählen wäre »Die Legende von den drei Hasen«. Die völlige Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung des dritten Hasen in dieser Legende ist eine Überlieferung vom Mondhasen aus Indien, wonach derjenige, der einen Gast beherbergt, aber ihm den Hunger nicht stillt und den Durst nicht löscht, vergebens zu Gott gebetet hat.
Die Fabel des Feuervogels Phönix
Für die Schüler der Mittelstufe, die schon eingetaucht sind in den Geschichtsstrom der Alten Kulturen, eignet sich als Bild des Auferstehungsgeheimnisses eine uralte Weissagung aus den sabäischen Mysterien des alten Arabien.
In den Gegenden Arabiens, die in früheren Zeiten einmal von geradezu paradiesischer Fruchtbarkeit waren, gab es nämlich einen Vogel, der hieß Phönix. Er war der Einzige seiner Art und lebte fünfhundert Jahre. Wenn ihm aber sein Ende herannahte und er sterben musste, dann kam er zu den Bäumen des Libanon im alten Phönizien und füllte seine Flügel mit Wohlgerüchen. Weiter flog er nach Ägypten in die Stadt, die Heliopolis (Sonnenstadt) heißt. Und am hellen Tage, vor den Augen aller, flog er zum Altar des Helios und verbrannte sich in dem Feuer des Altars. Am folgenden Morgen durchforschte der Priester den Altar und fand einen Wurm in der Asche. Am zweiten Tag bekam dieser Federn und am dritten Tag fand man ihn wieder zum Phönix geworden. Er grüßte den Priester und flog davon, zurück zu seinem alten Wohnsitz im Innern Arabiens, um für ein weiteres halbes Jahrtausend zu leben. Dann schauten die Priester die Zeittafeln nach und sahen, dass er nach Ablauf von fünfhundert Jahren gekommen war. Als Vogel des »großen Jahres« zeigte sein Flug nach dem Tempel von Heliopolis »die Wiedergeburt der neuen Zeit in gewissen Zyklen an«.
Die Sage vom Vogel Phönix, der sich im Weihrauchfeuer selbst verbrennt und aus der Asche wieder aufersteht, führt die Schüler nahe an das Wandlungsgeheimnis des Ostergeschehens. Die sabäischen Eingeweihten haben ein Wissen gepflegt von dem Wesen, das sich darauf vorbereitete, »zum Heile der Menschheit dereinst Sieger zu werden über den Tod«. Weitere Schritte auf dem Wege eines tieferen Verständnisses des Osterfestes für die Jugendlichen der Oberstufe seien hier nur angedeutet. Zum Beispiel könnte das Sinnbild des Hasen in den anthropologischen Betrachtungen des Unterrichtes auf einer höheren Stufe im Sinne progressiver Wiederholung aufgegriffen werden.
Der Hase als Symbol der Aufbaukräfte im Menschen
Einer früheren Zeit galt der Hase als Symbol für das, was im verborgenen Innern der menschlichen Natur vorgeht, tief unter der Schwelle des Bewusstseins. Nur wer den Weg einer inneren seelischen Entwicklung betritt, lernt nach und nach jene flüchtigen, hinhuschenden Bilder begreifen, die Kunde geben von der im Inneren der physischen Organisation sich vollziehenden Umwandlung. Die leicht entfliehenden Bilder dieses Aufbauprozesses der eigenen leiblichen Organisation nannte der mittelalterliche Alchemist den »flüchtigen Hasen«. Für den sich selbst verwandelnden Menschen ist der Hase, der seinen Leib andern freiwillig hingibt, sein Vorbild; als der »weiße Hase« erscheint er im Märchen.
Die Stärke des Hasen liegt im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. Dem aufbauenden Stoffwechselorganismus beim Menschen steht der abbauende Sinnes-Nerven-Prozess im Wahrnehmen und Erkennen gegenüber. Imaginativ gesprochen: Ewig jagt der Hund das Sinnestier, den Hasen, wie der Abbau dem Aufbau folgt. In der Polarität von Hase und Hund schaute man das an. Auch im Jahreszeitenwechsel symbolisiert der Hase die Aufbaukräfte der Natur im Frühling.
Das Phönix-Oster-Motiv bei Parzival
Auch andere Fächer bieten Anknüpfungspunkte, das Osterthema der großen Überwindung, Verwandlung und Auferstehung aufzugreifen; naheliegend sind der Religions-, Kunst- und Deutschunterricht, in denen wichtige Lebensfragen bewegt werden. In der 11. Klasse begleiten die Schüler »Parzival«, einen nach innerer Entwicklung und höherer Erkenntnis strebenden Menschen auf der Suche nach dem verborgenen Gral. Durch seinen Lebensweg fordert uns Parzival auf, uns selber umzuwandeln und die Geheimnisse des Daseins zu entdecken. Dieselbe Kraft wie beim Vogel Phönix bewahrt der Gral bei den Menschen.
Das Gefühl der Ohnmacht, des eigenen Unvermögens und Versagens gehört zum Ostererlebnis: Wie sind heute die Auferstehungskräfte zu finden? Diese Frage ist ein Lebensthema, da die Wege von der Ohnmacht zu den Auferstehungskräften individuell verschieden sind.
Zum Autor: Oswald Sander ist ehemaliger Klassen- und Fachlehrer in Stuttgart, Mannheim und Bayreuth.
Literatur: Brigitte Barz: Feiern der Jahresfeste mit Kindern, Stuttgart 1987; Sigismund von Gleich: Marksteine der Kulturgeschichte, Stuttgart 1982; Elisabeth Klein: Menschengemäße Erziehung als Zeitforderung, Schaffhausen 1976; Friedel Lenz: Mit Kindern Feste feiern, Schaffhausen 1978; Wera von Blankenburg: Heilige und dämonische Tiere, Köln 1975; Rudolf von Koschützki: Der Osterhase, Briefe an die Kinder, Stuttgart 1952; Luise Schusselmann: Die christlichen Jahresfeste und ihre Bräuche, Stuttgart 1992