Der Schatz im Silberhaar

Peter Schneider

Das Jahrhundert des Alters 

Als die schwedische Pädagogin Ellen Key 1900 das Jahrhundert des Kindes ausrief und damit Kindheit als eigenständige Lebensphase in das öffentliche Bewusstsein hob, wurde eine Tür aufgestoßen zur Entdeckung und Förderung der besonderen Fähigkeiten und des Potenzials der Kinder und Jugendlichen. Heute stehen wir vor einer ähnlich revolutionären Entdeckung: Das Alter wird als ein historisch einmaliges Territorium des Lebens entdeckt. Noch niemals in der menschlichen Geschichte wurden so viele Menschen gleichzeitig so alt, was bis zur Befürchtung eines »Kampfes der Generationen« führt, oder gar zu einer »Verschwörung« der Alten.

Und das Jahrhundert des Alters hat bereits begonnen. Von 1900 bis zum Jahr 2010 verdoppelte sich das Lebensalter von 40 auf 80 Jahre, zurzeit steigt die Lebenserwartung pro Jahr um drei Monate an: Ein Ende ist nicht absehbar! Ein heute geborenes Mädchen in Deutschland hat eine Lebenserwartung von 100 Jahren. Es gibt also Sinn, sich schon früh auf das Alter vorzubereiten. Alter hat Zukunft!

Die Alten – biographiegeprüft, sturmerprobt und konfliktgeübt

Der moderne Mensch verlängert sein Leben aber nicht nur quantitativ, das »Neue Alter« hat auch eine ganz neue Qualität: Es hat sich seine Fähigkeiten und seine große Begabung als sein reiches »implizites Wissen« erarbeitet. Wir wissen heute, dass wir weitaus mehr wissen, als wir zu sagen wissen. Und dies gilt ganz besonders für das »Alterswissen«. Denn in seiner langjährigen Berufserfahrung hat sich der Mensch ein hohes »Domänenpotenzial« und eine darauf basierende Intuitionsfähigkeit und Kreativität erworben, was seinen »Expertenstatus« begründet, der in der Regel eine mindestens zehnjährige Erfahrung voraussetzt. Und es wird ihm ein heuristischer, intuitiver Blick für das Wesentliche, Ganze und Entscheidende zuerkannt. »Alters­weisheit« ist biographiegeprüft, sturmerprobt und konfliktgeübt.

Da der Mensch im Alter seine Lebensleistung – dem herkömmlichen Sinn nach – bereits erbracht hat, muss er sich nichts mehr beweisen und kann gelassen langfristig denken. Ihm steht nicht mehr das »unbegrenzte« Energiepotenzial der Jugend zur Verfügung.

Er hat seine Grenzen kennen gelernt und geht mit den Ressourcen schonend um, er sucht den Ausgleich statt die Konfrontation. Die Infusion von Alters­wissen in Entscheidungen führt zu Integrität und Integration. Das Wissens- und Erfahrungspotenzial des »Neuen Alters« kann so zur bedeutsamen Ressource der zukünftigen Gesellschaft werden. Diese Erkenntnis ist in ihrer Tragweite weder im individuellen noch im gesellschaftlichen Bewusstsein genügend verbreitet. Die Möglichkeiten und die Fruchtbarkeit des »Neuen Alters« werden in ihrer Tragweite weder gesehen, noch gewürdigt oder genutzt. Diese Entwicklung gilt für industrialisierte Länder und ganz besonders für Deutschland. Denn Deutschland ist ein Land ohne natürliche Bodenschätze, das auf den Fleiß, die Arbeitskraft und die berufliche Qualifikation seiner Menschen angewiesen ist. Diese menschlichen Ressourcen zu erschließen ist nicht nur eine in die Selbstverantwortung des lebenslangen Lernens gestellte persönliche Aufgabe, sondern auch eine gemeinschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit, die engagiert und professionell umgesetzt werden muss.

Um diese Ressource, diesen »Schatz im Silberhaar«, zu entdecken und zu heben, müssen wir das bürgerschaftliche Engagement der älteren Menschen fördern.

Der Staat bekommt Gesellschaft

Darin, der Zivilgesellschaft Raum und einen Rahmen zu geben, hat Deutschland einen Nachholbedarf: Denn in der deutschen Staatstradition konnte sich die Vision einer partizipativen Bürgergesellschaft, von unten nach oben, bis heute nicht durchsetzen: Nicht die Initiativen der Bürger gelten als Garanten für Demokratie und Wohlstand, sondern die Vorgaben des politisch-administrativen Komplexes. Im Zuge des demographischen Wandels, der sich in der Formel: »Wir werden weniger, älter und unterschiedlicher« bündeln lässt, wandelt sich auch das Staatsverständnis: Es geht um eine veränderte Aufgabenteilung zwischen Staat und Individuum, zwischen Familie, Bürgergesellschaft und Markt. Vereinfacht könnte man sagen: Der Staat bekommt Gesellschaft. Und die Gesellschaft bekommt einen Staat, in dem die mündige Person das Zentrum und Ziel staatlicher Ordnung und staatlichen Wirkens ist. Damit erst wird die Idee des Grundgesetzes als eine Kultur der Freiheit konkretisiert.

Zunehmend greifen auch Organisationen im Non-Profit-Sektor – Vereine, Projekte, Initiativen und anderweitige Zusammenschlüsse – die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Altern, Integration, Migration, Bildung, Kultur, Familie, Pflege und Gesundheit auf, indem sie Angebote im sozialen Nahraum durch bürgerschaftliches Engagement bereitstellen. Dafür benötigen sie Menschen mit einer angemessenen und gesellschaftlich anerkannten Ausbildung die nicht nur punktuell oder lokal tätig sind, sondern ihre Projekte in einen gesamtgesellschaftlichen und auch politischen Zusammenhang stellen – als »heilsamen Impuls«.

Zum einen geht es darum, das vielfältige Wissen und die  Erfahrungen in kompetentem bürgerschaftlichem Engagement  fruchtbar zu machen. Zum anderen bilden Formen bürgerschaftlichen Engagements sinnstiftende Tätigkeiten für die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe im dritten Lebensabschnitt und tragen zu einer generationenübergreifenden Verständigung und Integration bei.

Hinweis: Die Alanus Hochschule bietet ab diesem Herbst ein Zertifikatstudium »Bürgerschaftliche Kompetenz im Dialog der Generationen« an.

Zum Autor: Peter Schneider ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft und Berufsbildung an der Universität Paderborn und Lehrstuhlinhaber an der Alanus Hochschule in Alfter.