Erziehungskunst | Die Corona-Pandemie hat uns jetzt schon fast ein Jahr im Griff. Wie haben die Waldorfschulen die Lage bisher gemeistert? Was wird aus den Schulen berichtet?
Henning Kullak-Ublick | Die Lage verändert sich laufend. Die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer haben in diesem Jahr alles dafür getan, einen guten Unterricht zu machen, ganz gleich, ob in der Klasse, online oder in kleineren Gruppen. Nicht alles hat geklappt, aber mit Bezug aufs »Meistern« haben alle Schulen inzwischen mindestens einen stabilen »Gesellenstatus« erreicht, der allerdings jeden Tag wieder auf die Probe gestellt wird, weil die Wirkungen der Pandemie sehr vielschichtig sind. In der ersten Phase kamen wir alle an unsere Grenzen – die Eltern, weil sie plötzlich Homeoffice, Kinderbetreuung und oft auch handfeste Einkommenseinbrüche unter einen Hut bringen mussten, die Lehrer, weil sie von heute auf morgen Wege finden mussten, wie sie mit ihren Schülern in Verbindung bleiben und ihnen dabei sinnvolle Aufgaben stellen konnten, die Schulverwaltungen, weil sie die Infrastrukturen aufbauen, Geräte anschaffen und Notfallpläne einrichten mussten. Manchmal hat das zwar superschnell geklappt, manchmal aber auch Frustrationen und Ratlosigkeit erzeugt. In gewisser Weise war das ein Seismograph dafür, wie gut das Kollegium zusammenarbeitet und ob die Schulführung klappt. Aber die meisten Klassenlehrer haben ihren Schülern vom ersten Tag an persönlich, durchs Telefon oder auf anderen Wegen Mut gemacht, Aufgaben gestellt und sich auch sonst um sie gekümmert. Der Fernunterricht wurde nach anfänglichen Schwierigkeiten oft intelligent und phantasievoll umgesetzt. Viele haben das zuerst sogar genossen, kamen aber bald an spürbare Grenzen, weil diese Form des Unterrichts die persönlichen Begegnungen nicht ersetzen konnte. Und es machte sichtbar, ob und wie selbstständig die Schüler arbeiten konnten. Ich hoffe sehr, dass wir aus diesen Erfahrungen die richtigen Schlüsse ziehen.
EK | Zum Beispiel?
HKU | Beispielsweise, dass unsere Oberstufenschüler ein viel größeres Mitspracherecht an den Inhalten, dem Epochenplan und auch an den Arbeitsmethoden bekommen. Die oft praktizierte Wahlfreiheit ist ja ein Anfang, aber da ist viel mehr Musik drin, wenn das nicht – ausgerechnet – auf die handwerklich-künstlerischen Fächer beschränkt wird. Vielleicht müssen wir den Schülern gegenüber manche unserer Heiligtümer tiefer begründen, aber das ist doch eine Chance, oder? Auch in der Mittelstufe arbeiten wir mitunter noch zu kollektiv. Sprachchöre sind etwas Wunderbares, aber dem muss gegenüberstehen, dass die einzelne Leistung wirklich gesehen wird und zählt. Im Laufe des Jahres eskalierte die öffentliche Debatte, die Positionen wurden radikaler und die Verständigung zunehmend schwieriger. Das machte auch vor den Toren der Waldorfschulen nicht halt. Die Maske ist zum Symbol geworden, was hier und da zu wirklich völlig abstrusen Aktionen führte ...
EK | Welchen Aktionen ...?
HKU | Einzelne Eltern verlangten beispielsweise von den Lehrern, sie sollten schriftlich die zivil- und strafrechtliche Haftung für den Fall übernehmen, dass ihr Kind durch das Tragen einer Maske erkrankte. Aber das waren Extreme und die allermeisten Schulen haben ihr Schiff inmitten der ganzen Aufgeregtheit ziemlich gut auf Kurs gehalten.
EK | Hat sich der Umgang mit der Pandemie und mit den von den Behörden angeordneten Maßnahmen in dieser Zeit verändert?
HKU | Bis weit in den November kamen oft freitags neue Verordnungen, die am Montag dann umgesetzt werden mussten. Das hat nicht nur bei den Eltern, sondern auch in den Kollegien für Unmut gesorgt. Im Lauf des Jahres haben die Schulen aber gelernt, schnell zu reagieren. Was sich geändert hat, ist die Schärfe der Debatten über den Sinn oder Unsinn einzelner Maßnahmen oder sogar der Schutzmaßnahmen insgesamt. Auf der einen Seite lösen die Schulen das pragmatisch im Schulalltag. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die tagtäglich versuchen, mit den Kindern das Beste daraus zu machen, unter einem enormen Druck. Aber ich habe die Hoffnung, dass wir immer mutiger werden, nicht nur auf das zu gucken, was uns beschränkt, sondern uns darin zu bestärken, neue Wege zu bahnen und die Waldorfpädagogik nach vorne weiterzuentwickeln. Dann ist das alles nicht nur ein Verlust, so weh er tut, sondern eine Chance. Für die Arbeit im Bundesvorstand hat das eine ganz hohe Priorität.
EK | Die kontroverse Beurteilung der Corona-Krise hat bis in die Familien und Schulen hinein Konflikte bewirkt. Welches sind die stärksten Konfliktthemen?
HKU | Ganz vorne stehen jetzt, Anfang Dezember, zweifellos die Maskenpflicht und die Angst vor erneuten Schulschließungen. Was passiert mit den Kindern, wenn sie immer nur einen Teil der Gesichter ihrer Mitschüler und Lehrer sehen? Werden sie unterschwellig dazu erzogen, die Welt als feindlich anzusehen, statt sich ihr mit allen Sinnen und empathisch zu verbinden? Traumatisieren die Schutzmaßnahmen eine ganze Generation? Was sind die langfristigen psychosozialen Wirkungen der Abstandsregeln? Gesellschaftlich geht es darum, wie weitgehend sich der Staat überhaupt in Gesundheits- und Erziehungsfragen einmischen darf. Werden hier dauerhaft Grundrechte außer Kraft gesetzt? Wem nützt das? Gibt es eine geheime Agenda hinter alledem? Von da aus ist der Weg zu Verschwörungstheorien manchmal nicht weit, aber solche Fragen stehen nun mal im Raum. Ihnen steht gegenüber, dass wir die Pandemie als Realität anerkennen und eine Verantwortung für die Gesundheit unserer Mitmenschen haben, insbesondere, wenn sie zu einer Risikogruppe gehören, dass wir erneute Schulschließungen möglichst verhindern wollen, dass wir die staatlichen Vorgaben umsetzen müssen, wenn wir unsere Schulen nicht einfach dichtmachen wollen und nicht zuletzt, dass wir keine sektiererischen Enklaven der Wissenden in einer Einöde, sondern Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens sein wollen und sind. Für Menschen, die der Anthroposophie nahestehen oder überhaupt ernsthaft damit rechnen, dass der Mensch über seine körperlich-natürliche Existenz hinaus auch einen genauso realen geistigen Wesenskern, seine einzigartige Individualität, besitzt, stellen sich die Fragen noch einmal etwas anders. Unser Körper ist ja ein unglaublich differenziertes und feinst justiertes Instrument, das zugleich Ausdrucksmittel des inneren Lebens und Wahrnehmungsorgan für die Welt, die uns umgibt, ist. In diesem subtilen und immer bewegten Wechselspiel von Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Erkennen, also einem aktiven Verhältnis zur Welt, entwickelt sich unsere Individualität. Es geht bei den Schutzmaßnahmen keineswegs nur um die körperliche Unversehrtheit, sondern genauso um die Frage, wie die Kinder ihre Sinne ausbilden, ihren Körper ergreifen, sich über Musik, Kunst, Handwerk mit der Welt und anderen Menschen verbinden und wie sie aus all diesen Erfahrungen echte Denkerfahrungen gewinnen, die Welt lieben und Entschlüsse bilden können. Das sind schon sehr ernste Fragen. Aber wir sollten nicht in die Falle gehen, das eine gegen das andere auszuspielen. Wie bei allem kommt es auf die richtige Balance an.
EK | Inwiefern lassen sich an diesen Konflikthemen gesellschaftliche Defizite oder Aufgabenstellungen ablesen?
HKU | Wir beobachten gegenwärtig starke zentrifugale Kräfte, die immer öfter dazu führen, dass gewachsene Beziehungen auseinanderfliegen, in Familien, Kollegien, der Gesellschaft und der Welt. Eine neue Form der babylonischen Sprachverwirrung ist entstanden, in der man nicht nur nicht mehr versteht, was andere sagen, sondern das gar nicht erst hören will. Die Chat-Medien – »sozial« kann ich die nicht mehr nennen – haben eine solche suggestive Macht, dass wir ein neues Pfingstwunder vollbringen müssen, um das wieder zu heilen, diesmal allerdings aus eigenem Entschluss. Das ist eine zentrale Bildungsfrage, denn wo sonst sollen die jungen Menschen denn lernen, wie sie in dieser chaotischen virtuellen Welt die Spreu vom Weizen trennen? Um an die vorige Frage anzuknüpfen: Es geht auch um das Verständnis vom Wesen des Menschen selbst. Wenn wir nur noch uns selbst sehen, verkümmert unsere Menschlichkeit. Der Blick muss viel, viel weiter werden, indem wir nicht nur fragen, was uns, was mir, jetzt gerade fehlt, sondern was andere brauchen. Das Virus ist ja nicht aus irgendeinem schlechten Film über uns gekommen, sondern von den »wet markets« in Ostasien, wo Tiere unter furchtbaren Qualen inmitten tausender Menschen verkauft und geschlachtet werden. Es ist menschengemachten Verhältnissen entsprungen. Hierzulande haben wir die Massentierhaltung und die Schlachthöfe, die nur durch den massiven Einsatz von Antibiotika überhaupt funktionsfähig gehalten werden. Die Pandemien der jüngeren Vergangenheit wurden fast immer durch die enge Nachbarschaft von gequälten Tieren mit Menschen ausgelöst. Das ist doch vollkommen krank! Und es hat sehr viel mit der Gier eines entfesselten Kapitalismus zu tun, der sich nicht zuletzt von unseren »Geiz-ist-geil«-Einkaufsgewohnheiten nährt. Aber das ist nur ein Symptom. Es geht um unsere Verantwortung für die Umwelt und Mitgeschöpfe, mit denen wir zusammen durch Äonen gegangen sind und für die wir jetzt verantwortlich sind. Es geht nicht mehr darum, wie wir die Erde ein bisschen cleverer als bisher ausbeuten, sondern darum, was sie von uns für ihre weitere Entwicklung braucht. Und darum, ob wir unseren Luxustanz auf dem Vulkan weiterhin auf Kosten der armen Länder tanzen wollen oder ob wir Brüderlichkeit und Solidarität endlich ernst nehmen. Übrigens ist ein solcher Blickwechsel auch für das Maskentragen interessant. In Ostasien ist es völlig selbstverständlich, dass man, wenn man erkältet ist, eine Maske trägt – um die anderen zu schützen. Manchmal sind die Dinge viel einfacher als man denkt. »Höflichkeit wird zu Herzenstakt«.
EK | Konflikte sind im Prinzip nichts Negatives. Von Lesern der »Philosophie der Freiheit« wird gerne vorgebracht, sie müssten mit »moralischer Phantasie« gemeistert werden. Was ist darunter zu verstehen und gibt es praktische Beispiele für eine solche Phantasie im Umgang mit der Pandemie?
HKU | Eigentlich spricht das Wort ja für sich selbst. Moralische Phantasie findet man überall, wo Menschen sich etwas einfallen lassen, statt bloß zu lamentieren. Steiner stellte das zwischen die moralische Intuition »Worauf kommt es jetzt wirklich an?« und die moralische Technik, »Wie geht das ganz konkret?« und verwies damit auf unsere Gabe, das Unmögliche möglich zu machen, indem wir das Gottesgeschenk der Phantasie aktivieren, also nicht nur mit dem Kopf denken, sondern Schmetterlinge als Kundschafter aussenden. Ich kenne Schulen, in deren Kollegien es völlig entgegengesetzte Einschätzungen zur Pandemie gibt und die trotzdem gut zusammenarbeiten. Wie machen die das? Indem sie sich fragen, was die Kinder brauchen und dann schauen, was ihnen dazu einfällt.
EK | Lehrer stehen vor der Herausforderung, trotz der verbindlichen Schutzmaßnahmen die Beziehung zu den Schülern in dieser Zeit pädagogisch sinnvoll gestalten wollen. Gibt es beispielhafte Lösungen?
HKU | In Hamburg hat ein Sport- und Geografielehrer im letzten Herbst nur zwei von sechzig Unterrichtstagen nach innen verlegt und seinen Schülern damit ermöglicht, trotz der Einschränkungen an der frischen Luft zu lernen und sich zu bewegen. Unterricht im Schulgarten, einer Halle, in der Stadt, am Wasser oder im Wald bietet viel mehr Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten, als es zunächst scheinen mag. Biologie und Ökologie, Geografie und Handel, Geschichte und Handwerk, Wirtschafts- und Gesellschaftskunde, Kultur und Medien, all das kann man ganz gut erwandern oder erfahren, wenn man den Klassenraum verlässt. Oft wurden Aufgaben gestellt, die ein hohes Maß an Eigentätigkeit forderten, die Schüler aber zugleich ermutigten, das allein oder in kleinen Gruppen individuell zu gestalten. Auch digitale Medien können dabei sehr hilfreich sein, wenn man sie intelligent einsetzt und nicht an die Stelle echter Begegnungserfahrungen setzt.
EK | Ihre Arbeit als Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen ist zurzeit von vielen Auseinandersetzungen geprägt. Welche sind dies in Bezug auf Corona und wie gehen Sie persönlich damit um, was gibt Ihnen Kraft?
HKU | Bei uns kommen natürlich viele Sorgen, Ängste, Fragen, Erwartungen und auch einige Empörung an. Ich habe lange versucht, auf jede E-Mail persönlich zu antworten und versuche das im Prinzip immer noch, aber es sind zu viele. Auf unserer Webseite haben wir auch deshalb die »Corona-FAQ« eingerichtet, wo wir viele Fragen aufgreifen. Wir versuchen, kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen, was uns zwar hier und da als opportunistische Prinzipienlosigkeit ausgelegt wird, aber damit müssen wir wohl leben, auch wenn es wehtut. Der »Bund« repräsentiert immerhin über 250 Schulen mit 90.000 Schülern und 9.000 Lehrern, was einem kleinen Bundesland entspricht. Denen sind wir verpflichtet. Wir müssen so mit der Öffentlichkeit kommunizieren, dass die Waldorfschulen als ernsthafte Gesprächspartner wahrgenommen werden. Das wird nicht einfacher, wenn sich zwar selten, dann aber meist lautstark, Leute auf Kosten der Waldorfpädagogik oder Anthroposophie mit teils wirklich schrägen Thesen öffentlich in Szene setzen und dadurch die sachlich-kritischen Argumente in ein schiefes Licht tauchen. Das wurde in diesem Jahr schon zu einem Medienthema, aber ich hoffe, dass wir das einigermaßen zurechtrücken konnten. Persönlich schmerzt mich, dass wir, nachdem wir im Jahr 2019 durch Waldorf 100 mit der ganzen Welt in Verbindung standen und so viel Freude und Kraft in der Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg entstanden ist, zurzeit oft nur noch die Maske vor der eigenen Nase sehen. Ich glaube aber, dass das ein Schmerz ist, den wir alle teilen und dass daraus ein neuer Impuls werden kann, unserer Waldorfpädagogik einen kräftigen Schubs nach vorne zu geben. Von der haben wir nämlich, davon bin ich zutiefst überzeugt, erst den allerkleinsten Teil entdeckt. Warum? Weil es in ihr immer um den Menschen und die Menschlichkeit geht. Und das ist ein unerschöpflicher Quell.