Kürzlich saß ich in der S-Bahn zwischen einem Kind, das gerade das Sprechen entdeckte, und einem etwa fünfzigjährigen Pärchen, das sich nur unter großen Schwierigkeiten mit Worten ausdrücken konnte. Beiden war gemeinsam, dass sie staunten, was das Zeug hielt. Das Kind jauchzte die Sprache bei jeder Entdeckung heraus, die beiden Erwachsenen freuten sich lautstark aneinander und nahmen mich als ihren Nachbarn in diese Freude mit auf. Sie erzählten einander, mir (und dem ganzen Waggon), dass sie sich »schon seit 200 Jahren« kannten, dass sie schon einmal sein Burgfräulein gewesen war und sie davor auch schon gemeinsam eine Höhle bewohnt hatten. In spätestens zehn Jahren wollten sie heiraten.
Je länger ich diesen drei Menschen zuhörte, umso mehr ergriff mich das Staunen über das Geheimnis der Sprache, die nur auf den Schwingen eines tiefen Fühlens erlernt werden kann, zugleich aber ins Licht des Bewusstseins hebt, was sonst im Inneren verborgen bliebe. Und während meine Nachbarn jedes Wort feierten, war der Waggon zu weiten Teilen in die Smartphone-Welt hinein verstummt, was hier aber nur erwähnt wird, weil der Kontrast zwischen dem Wort »von Mund zu Ohr« und dem Abtauchen in das jeweils eigene Display einfach zu eklatant war, um ihn hier zu verschweigen.
Zurück bei den Geheimnissen nähern wir uns in diesen Wochen einem »offenbaren Geheimnis«, dem Weihnachtsfest. Rund um dieses Fest wird gewandert: Die drei Weisen aus dem Morgenland sind ebenso auf der Wanderung wie die schwangere Maria und ihr Joseph, in der Darstellung des Matthäus-Evangeliums folgt der Geburt des Kindes die Flucht nach Ägypten – eine Form der Wanderung, auf der sich heute weltweit mehr als 52 Millionen Menschen befinden. Verlust, bitterste Armut, Verfolgung und Heimatlosigkeit umgeben die Geburt, verbunden mit Bildern wie dem Stern von Bethlehem, den Hirten, dem Chor der Engel. Selbst wenn die Weihnachtsgeschichte nur eine Dichtung wäre, führte sie doch unmittelbar in das tiefste Geheimnis des Menschseins hinein, indem sie in einem neugeborenen, hilflosen Kind, das in der vollkommenen Machtlosigkeit und unter dem Verlust jeder materiellen Sicherheit zur Welt kommt, die Rettung des Menschseins schlechthin verortet.
Geben wir unseren Kindern noch die Möglichkeit, über das Erlauschen und Mitempfinden dieser Geschichte, über die Bilder, die sie in ihren Seelen von der Krippe, den Hirten und den offenen Himmeln bilden, den Menschen selbst zu sehen? Lassen wir sie mit uns das Geheimnis fühlen, das in dieser Geschichte lebt? Suchen wir inmitten des kommerziellen Exzesses, der sich ihrer Bilder bemächtigt hat, die Stille des gesprochenen Wortes wieder auf?
Das Geheimnis steht an der Wiege der Wissenschaft und Kunst, weil es im Gewordenen das Werdende entdeckt. Oder, um es mit den Worten von Angelus Silesius zu sagen: »Ach könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden, Gott würde noch einmal zum Kind auf dieser Erden.«
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de) Im Frühjahr erschien sein Buch »Jedes Kind ein Könner. Fragen & Antworten zur Waldorfpädagogik.«