Nachrichten aus einer zerfallenden Gesellschaft

Albert Schmelzer

Die Zahl der 12- bis 25-Jährigen, die voller Optimismus in die Zukunft blicken, ist laut der aktuellen Shell-Jugendstudie im Vergleich zum Jahr 2006 deutlich gestiegen. Nur sieben Prozent sehen ihre Zukunft eher düster. So erscheint es auf den ersten Blick.

Schaut man allerdings genauer hin, so zeigt sich, dass die Differenzen zwischen heranwachsenden, ausbildungsnahen und sozial gesicherten Schichten und denen, die »sozial abgehängt« sind – immerhin ein Anteil von zehn Prozent, die zur Unterschicht gerechnet werden – immer mehr zunehmen. Die »underdogs« sind durchweg pessimistischer eingestellt, haben weniger Interesse an Politik, engagieren sich weniger und haben ein geringeres Vertrauen in die Familie; nur 41 Prozent glauben, dass sich ihre Berufswünsche erfüllen werden.

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Ergebnisse des UNICEF-Berichts zur Lage der Kinder in Industrieländern 2010 betrachtet. Darin wurde die Situation der Heranwachsenden in 21 Industrieländern anhand von sechs Dimensionen verglichen: materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung und Ausbildung, Beziehungen zu Familie und Gleichaltrigen, Verhaltensrisiken sowie subjektives Wohl­befinden der Kinder und Jugendlichen. Im Gesamtvergleich über alle sechs Dimensionen liegt Deutschland  auf Platz 8 – hinter den Niederlanden, Schweden, Finnland, Norwegen, Spanien, der Schweiz und Dänemark, aber vor Ländern wie Belgien, Frankreich, Großbritannien und den USA – und damit im oberen Mittelfeld der Industrienationen, wenn es darum geht, eine gute Lebensumwelt für die junge Generation zu schaffen.

Allerdings gibt es auch besorgniserregende Entwicklungen: Nach OECD-Daten leben in Deutschland 16 Prozent der rund 12,9 Millionen Kinder und Jugendlichen in Haushalten, denen weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Insbesondere Kinder, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, sind überproportional von relativer Armut betroffen: 350.000 von rund zwei Millionen.

Daraus ergibt sich – wie auch die Shell-Studie zeigt – bei vielen Heranwachsenden aus der Unter- und der unteren Mittelschicht eine düstere Einschätzung der eigenen Berufsaussichten: Knapp ein Viertel erwartet, dass sie nach Beendigung der Schule und der Ausbildung niedrig qualifiziert arbeiten werden.

Das dreigliedrige Schulsystem bedarf der Revision

Angesichts eines solchen Befundes müsste ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Denn bei einer weiter wachsenden Kluft zwischen reich und arm, zwischen optimistisch eingestellten Gewinnern und unter Pers­pektivlosigkeit leidenden Verlierern ist der gesellschaftliche Zusammenhalt bedroht. In höchstem Maße problematisch erscheint in diesem Kontext das dreigliedrige Bildungssystem mit seiner frühen Selektion der Kinder: In keinem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg so stark vom sozialen Status der Eltern ab wie in Deutschland. – Besonders benachteiligt sind die Kinder mit Migrations­hintergrund aus schwachen, als bildungsfern eingestuften, sozialen Schichten: Etwa ein Fünftel der Jungen aus Einwandererfamilien verlassen die Schule ohne Abschluss – die absehbaren Folgen für das weitere Leben sind: Erwerbs- und Perspektivlosigkeit, Gewaltbereitschaft und mangelnde Integrationsmöglichkeiten, die dann – siehe die Thesen von Sarrazin – als »Integrationsunwilligkeit« gedeutet werden.

Die Waldorfschulen müssen aktiv werden

Die angeschnittene Problematik kann auch die Waldorfschulen nicht kalt lassen. Im Allgemeinen kommen – wie die empirische Absolventenstudie von Heiner Barz und Dirk Randoll zeigt – die Schülerinnen und Schüler an Waldorfschulen aus sozial gut situierten Schichten und bildungsnahen Familien, zudem gibt es an Waldorfschulen nur einen  geringen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund (16,4 Prozent). Diese soziale Zusammensetzung der Schülerschaft steht in  Widerspruch zu den Intentionen Rudolf Steiners, der eine integrierte Gesamtschule mit einer Koedukation von Kindern aller sozialen Schichten anstrebte. Angesichts der mangelnden Refinanzierung freier Schulen durch die öffentliche Hand und das dadurch bedingte hohe Schulgeld ist diese Situation verständlich. Allerdings sollte sich die Waldorfschulbewegung damit nicht beruhigen, sondern alle Anstrengungen unternehmen, um ihre soziale Schieflage zu verändern – einerseits durch eine Verstärkung der politischen Aktivitäten für eine gerechtere Finanzierung der Schulen, andererseits durch die Unterstützung von Initiativen, die Schulen bewusst in Stadtvierteln gründen, in denen eine andere Zusammensetzung der Schülerschaft zu erwarten ist – wie etwa die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim-Neckarstadt. Das soziale Anliegen der Waldorfschule darf nicht verloren gehen. »Es würde ein ungeheurer Schaden sein, wenn gerade der soziale Impuls verkannt würde, welcher der Begründung der Waldorfschule zugrunde liegt« – schrieb Rudolf Steiner eine Woche vor der Eröffnung der ersten Waldorfschule 1919 an die damaligen Waldorfeltern.

Literatur: M. Albert, K. Hurrelmann, G.Quenzel: Jugend 2010. 16. Shell-Jugendstudie, Frankfurt a.M. 2010 | UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern 2010 | H. Barz, D. Randoll: Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, Wiesbaden 2007 | R. Steiner: Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297, Dornach 1988