Menschenfreiheit und Engelwirken

Alexandra Handwerk

Als mein Sohn etwas mehr als zwei Jahre alt war, hatte er eine schwere Lungenentzündung. Das Fieber war hoch, der Zustand schlecht. Der Arzt kam täglich und schaute nach dem kleinen Patienten. Die Krankheit näherte sich ihrem Höhepunkt, der Arzt saß mit mir seit einer Stunde am Krankenbett und beobachtete konzentriert das schwer atmende Kind. Das Fieberthermometer zeigte inzwischen über 40 Grad und wenn mein Sohn erwachte, war deutlich, dass er weder mich noch die Umgebung erkannte. Ich fragte den Arzt, was wir denn jetzt nur tun könnten. Erstaunt sah er mich an. Er bemerkte jetzt erst meine Angst. Und was tat er? Er sah mich ruhig an, lächelte und sagte: »Wenn ich mir keine Sorgen mache, warum machen Sie sich dann welche?«

Ich weiß noch, dass ich sehr erstaunt über diese Antwort war. – War das wirklich so? Brauchte ich mir keine Angst zu machen, wenn er sich keine machte? Hatte ich so viel Vertrauen? Ich beschloss, darüber nachzudenken. Ab da beobachtete ich nicht nur mein Kind, sondern auch ihn. Er saß ohne jede Eile da, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt, den Blick gelassen, aber in voller Konzentration auf das Kind gerichtet. Er arbeitete. In seinem Beruf. In diesem Moment war er nur Arzt und es gab nur den einen Patienten – mein Kind.

Nach einer Zeit fragte ich vorsichtig in die konzentrierte Stille: »Und was sehen Sie, dass Sie sich keine Sorgen machen?« Er wandte den Blick nicht vom Kranken und antwortete leise: »Er macht das sehr gut. Am liebsten hätte ich meine Studenten hier. Das geht wie im Lehrbuch – bloß dass man es da nicht aushalten muss, dass es auch stattfindet. Hier findet es statt und man kann eine große Krankheit bei der Arbeit beobachten, die den Menschen bis an die Grenzen führt, um ihn völlig umzuschaffen.

Ich gehe davon aus«, damit wandte er sich mir zu, »dass das Fieber bald leicht abfallen und der Schlaf dann ruhiger wird. Wenn das so ist, kann ich nach Hause gehen und werde morgen früh wieder kommen. Dann ist das Schlimmste überstanden.« Genau so war es. Und als er gegangen war, noch ein, zwei therapeutische Anweisungen gebend, konnte auch ich beruhigt schlafen, ich wusste mein Kind in guten und verantwortungsvollen Händen.

Haben meine Gebete diesen positiven Krankheitsverlauf bewirkt? Nein! Ich habe in dieser Zeit nicht mehr, aber auch nicht weniger gebetet als sonst. Gesundung wurde in diesem Falle dadurch bewirkt, dass der Zusammenhang um den Patienten stimmte. Das Kind konnte in aller Ruhe zu Hause in Wärme und Liebe eingebettet krank sein. Es gab keinen äußeren Anlass, der die Krankheit hätte entgleisen lassen können. Und es gab einen Arzt, der kompetent den Krankheitsprozess begleiten, bewerten und beeinflussen konnte.

Ich hatte diesen Arzt – wie man so sagt – rein zufällig kennengelernt. Wir hatten uns damals ausführlich unterhalten. Im Nachhinein kam mir jedoch der Verdacht, dass dieses zufällige Kennenlernen von Menschen einen Einblick gibt in die Arbeitsweise des Engels. Als ich den Arzt kennenlernte, war ich gerade mit meinem jetzt kranken Sohn schwanger. Fand hier eine erste Begegnung statt, deren Dimension sich erst zwei Jahre später realisieren sollte?

Meine Verantwortung und meine Freiheit

Dies zu überschauen, übersteigt meine Fähigkeiten. Dass ich die »richtigen« Menschen für mein Leben kennenlerne, dass ich ihnen überhaupt in unserer so großen Welt begegne, dafür braucht es höhere Fähigkeiten – solche, die zusammenführen können, was zusammen gehört. Ist aber die Begegnung geschehen, lässt mein Engel mich sogleich wieder frei. Kein Wink und keine Hilfe haben darauf hingewiesen, wen ich rufen soll, als mein Kind erkrankte. Ganz allein stehe ich mit meiner Entscheidung. Ich könnte auch ins Krankenhaus gehen oder zu jedem anderen Arzt. Auch die Entscheidung, wie behandelt wird, fällt nicht ein höheres Wesen, sie wird von den beteiligten verantwortlichen Menschen umsichtig getroffen. Dass der Arzt jeden Abend kommt, folgt auch keiner Eingebung, sondern seiner beruflichen Verantwortung. Ich lerne: Alles, was mit Menschenkräften geht, lässt der Engel in völliger Freiheit auch in meiner Verantwortung. Erst wo Menschenkräfte enden, beginnen liebevolle Götterkräfte. Aber nicht, indem sie zaubern – nein. Sondern indem sie mich mit Menschen zusammenbringen, die Fähigkeiten besitzen, die ich nicht habe. Der dramatische Krankheitsverlauf hätte meine Fähigkeiten überstiegen. Die meines Arztes übersteigen sie noch lange nicht.

Meine innere Bitte, meine Hinwendung, mein Gebet können Grundlage und Möglichkeit sein, dass mein Engel mit mir zusammenarbeitet. Wenn ich meine menschlichen Fähigkeiten überschätze und Höheres nicht in Betracht ziehe, ist mein Engel zur Untätigkeit verurteilt. Wenn ich nur meinen bisherigen Menschenumkreis wahrnehme und gar keinem Fremden mehr begegnen mag, begrenze ich ebenfalls stark die Möglichkeiten meines Engels. Und dann gibt es natürlich noch die Möglichkeit, dass ich das Tätigkeitsfeld meines Engels ganz woanders ansiedle, als dort, wo er wirkt: Wenn ich nämlich meine Verantwortung auf ihn abschiebe.

Wenn Gottvertrauen fehl am Platz ist

Wir stehen an einem wunderbaren Schwarzwaldhang und rodeln. Ich bewundere die Geschicklichkeit meiner Kinder. Mich schmeißt es bei der Abfahrt jedes Mal fast vom Schlitten. Es gibt Bäume an dem Hang, Brombeergestrüpp an den Rändern und üppige Wildrosensträucher dazwischen. Da muss man schon sicher in den Kurven sein. Eine neue Familie kommt hinzu. Die größeren Kinder schwingen sich jubelnd auf die Schlitten und fahren los. Die Mutter mit ihnen. Der Vater steht noch oben mit dem Jüngsten – vielleicht vier, fünf Jahre alt. »Du schaffst das auch«, sagt er zu ihm und hebt ihn auf einen Holzschlitten. »Ich schieb dich an und dann fährst Du immer hinter den anderen her. Siehst du, was die für einen Spaß haben?« Und mit Schwung schiebt er sein Kind über die Hangkante. Die Fahrt dauert ungefähr 20 Sekunden, dann endet sie ungebremst und ohne die geringste Lenkung im Brombeer-Rosen-Gerank. Ein Ehepaar bemerkt trocken: »Da hat wohl der Schutzengel geschlafen.«

Weit gefehlt. Geschlafen haben nur die Menschen. Der Vater war noch lange nicht an dem Punkt, dass die Situation ihn überforderte. Er hatte aber seine Verantwortung fahren lassen – seine und nicht die des Engels. Dort, wo die Fähigkeiten seines Kindes endeten, war sein Gottvertrauen fehl am Platz. Das Kind hätte sich auf ihn stützen können und müssen. In der menschlichen Verantwortung war eine Lücke aufgetaucht, nicht beim »Schutzengel«. Aber war es nicht böse, dass der Engel zuließ, dass das Kind durch die Fahrlässigkeit des Vaters Schmerzen zu erleiden hatte? Mir scheint, ehern ist das Gesetz, das dem Engel verbietet, Menschenfreiheit zu verletzen. Wo Menschen frei handeln können, treten auch alle Folgen direkt und ungestört ein – im Guten wie im Bösen.

Aber etwas anderes passierte noch an diesem Rodelhang. Die Mutter und die großen Kinder befanden sich einen guten Kilometer weiter unten und hatten von dem Unglück nichts mitbekommen. Der Vater stand der Situation allein gegenüber. Aber an der Unglücksstelle blieb er nicht allein. Viele, die ihn dort sahen, eilten zur Hilfe, befreiten das Kind von Dornen und Ranken, prüften, dass ihm nichts Ernstliches passiert war, kamen mit Vater und Kind ins Gespräch, holten heißen Tee und Kekse, und aus Fremden wurden Bekannte. Trafen sich vielleicht hier gerade die Menschen, die in ein paar Jahren Wesentliches miteinander zu tun haben und dankbar auf den Moment zurückschauen werden, da sie sich zufällig trafen? Und waren da nicht gerade die Engel wieder am Werk, aus einer verfahrenen Situation Gutes zu fördern?

»Englisch« zu lernen, ist einen Versuch wert

Ich habe mir angewöhnt, wenn Menschen, zum Beispiel wenn sie unglücklich sind, klagen und Engelswirken vermissen, darauf zu achten, was Engel stattdessen gerade tun. Denn wenn ich sie nur da vermisse, wo sie mir meine Verantwortung abnehmen sollen, dann wird mir meine Menschenfreiheit recht bitter schmecken – sollen doch die Engel gefälligst eingreifen, wenn alles schief läuft. Und statt mich zu fragen, was ich so alles zulasse, werde ich sie anklagen, was sie alles zulassen. Jeder kennt die Frage: Warum lässt Gott Unrecht, Leid und Krieg zu?

Wer aber Menschenfreiheit und Menschenverantwortung lieben lernt, der wird merken, dass uns alle Kräfte zugeführt werden, die uns bei unseren schweren Aufgaben helfen können. Und wenn wir dann doch an einem Punkt nicht wach sind und etwas nicht ergreifen, dann werden unsere Helfer schon für die nächsten Begegnungen vorsorgen und so, wie Goethe sagt, doch noch etwas Schönes bauen aus dem Stein, den wir uns in den Weg gelegt haben.

Manchmal versuche ich, ein bisschen »englisch« zu lernen. Ich nehme mir an meinem Arzt ein Beispiel. Wenn meine Kinder sich fragen, ob sie sich etwas zutrauen können, dann sage ich ihnen, dass ich es ihnen zutraue. Wenn sie aber merken sollten, dass sie irgendwann nicht weiterkommen, dann helfe ich ihnen gern mit meinen Möglichkeiten weiter. Und wenn alles schief geht? Dann versuche ich, den Stein zu finden, aus dem sich noch etwas Schönes bauen lässt. Und wenn sie vor etwas gestellt sind, was unser aller Möglichkeiten übersteigt? Dann suche ich unsere Freunde und Bekannten im Geiste auf, besonders die, die ich noch gar nicht so lange kenne, ob nicht sie die Fähigkeiten besitzen, die mir fehlen und ich bloß noch nicht entdeckt habe.

Und manchmal, wenn ich mich vor Aufgaben gestellt sehe, von denen ich sicher bin, dass sie meine Möglichkeiten weit übersteigen, aber niemanden finde, der sie mir abnehmen könnte – wenn ich allein sitze und zweifle und aufgeben will, dann kommt es vor, als stünde jemand hinter mir, der mit mildem Lächeln sagt: Wenn ich es Dir zutraue, warum solltest Du es Dir dann nicht zutrauen? Dann weiß ich wieder, dass ich nie allein bin, dass ich handeln darf, so gut ich nur kann. Und wenn meine Kräfte an ihr Ende kommen, dann werden Engelskräfte den nächsten Schritt schon vorbereitet haben.

Zur Autorin: Alexandra Handwerk ist freischaffende Anthroposophin.