Die Inklusion wird scheitern
Die Umsetzung der 2006 verabschiedeten Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) – umgangssprachlich UN-Behindertenrechtskonvention – wird scheitern, jedenfalls im pädagogischen Raum. Das lässt sich zumindest für Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostizieren.
Der politische Wille zu durchgreifenden Reformen in Richtung einer wahrhaft inklusiven Pädagogik fehlt. Ansätze echter geistiger Durchdringung des Themas gibt es, doch sie sind dünn gesät und weitgehend wirkungslos.
Inklusion war schon Gegenstand anderer K.-Kolumnen. Trotzdem möchte ich mich noch einmal dazu äußern. Und sei es nur, um zur Klärung der Gründe des absehbaren Scheiterns beizutragen.
Kürzlich sorgte der Fall eines Jugendlichen mit Trisomie 21 für Aufsehen. Er hatte das Abitur geschafft. In einer TV-Talkrunde waren alle schwer beeindruckt, so nach dem Motto: Hört, hört! Sogar aus solchen Kindern kann etwas werden! Es sei eben gelungen, aus diesem Jungen »alles herauszuholen«, sagte eine Expertin. Sie sprach von optimaler individueller Förderung. Da schrillten bei mir die Alarmglocken. Schon wegen der Misshandlung des Begriffs individuell. Die Welt der ›Normalen‹ zwingt den ›Unnormalen‹ eine demütigende Konkurrenz um Wertschätzung auf. Menschen mit Behinderungen gelten als Inklusions-Vorzeigeexemplare, wenn sie innerhalb des Regelwerks der gemäß Selbsteinschätzung Nichtbehinderten hinreichend bis überraschend gut funktionieren. Gelobt seien unter euch die, denen es am besten gelingt, uns ähnlich zu werden. Das ist ein grundlegendes Missverständnis.
Inklusion wird beharrlich mit Sozialisation (›Eingliederung in die Gesellschaft‹) verwechselt. Man bewertet benachteiligte Menschen anhand konventioneller Leistungs- und Verhaltensnormen, stellt eine Mängeldiagnose und will dann »alles aus ihnen herausholen«, was sie instand setzt, diese Normen einigermaßen zu erfüllen. Letzteres entspricht dem alten Leitbild anpassungsorientierter Integration, nicht aber dem Ethos der Inklusion.
Solange wir uns von exkludierenden Denkgewohnheiten leiten lassen, kann inklusive Praxis nicht gelingen. Es verbietet sich, Menschen in Güteklassen einzuteilen: Auf der einen Seite defizitäre Individuen, sortiert nach Grad und Art ihrer Defizite, auf der anderen Seite wir, die Nichtdefizitären. Das ist mentale Exklusion. Altes Denken. Unzulängliche Kinder gibt es nicht.
»Im Mittelpunkt unserer Hilfesysteme steht die Behebung des an fremder Normalität gemessenen Mangels. Das auffällige Kind ist ein Mängelwesen. Der Mensch als Individualität gerät dadurch an den Rand.« So lautet die kritische Bilanz einer 2002 von der Windrather Talschule veranstalteten Tagung zum Thema »Integration als Ausgangspunkt neuer Schulkonzepte«. Damals fiel schon das Wort Inklusion als Hoffnungszeichen. Vier Jahre später kam die CRPD. Gebessert hat sich nichts. Im Gegenteil. Der Fehlerfahndungsblick ist Pflicht geworden. Benachteiligte Kinder müssen krankgeschrieben werden, um einen Anspruch auf Inklusionshilfe zu haben. Und ich fürchte, in Waldorfkreisen regt sich wenig Widerstand dagegen.
Anne Kienhöfer, Darmstadt, 06.02.15 05:02
Dieser Artikel spricht mir aus der Seele. Wie demütigend, Kinder in ein Umfeld zu bringen, in dem "alles" für sie getan und probiert wird, dass sie wie die anderen Kinder " funktionieren ". Selten, dass der Rhythmus, der Ablauf und die Situation auf ihre ganz eigenen Bedürfnisse abgestimmt werden. Das wäre mühsam
und man geht gerne den gemütlichen weg der General -Bewertung am "Normalzustand". Danke für diesen Artikel !
Er macht mir Mut!
Christine , 11.02.15 13:02
danke, aber wie gehts dann weiter?
Martin Cuno, Siegen, 16.02.15 15:02
Ob "Inklusion" scheitert, vermag ich nicht zu beurteilen, denn ich habe diese Dame immer noch nicht kennengelernt. Vielleicht handelt es sich gar nicht um jemanden aus Fleisch und Blut, sondern um eine Art virtuellen Popstar - eine Zeitlang wird er mächtig "aufgebaut", dann ist unheimlich viel los, und schließlich geht seine Zeit zu Ende?
In der "Behindertenrechtskonvention" ist diese Dame jedenfalls, wie sich vielleicht langsam rumspricht, nicht zu finden, denn es handelt sich um ein seriöses Dokument. Dort sind seriös Ansprüche formuliert, und ich glaube nicht, dass deren Umsetzung "scheitert".
Bei uns an der Sonderschule übrigens ist "normal" oder "unnormal" ganz egal und spielt keine Rolle. Uns gehts um die Kinder (und um uns selbst), um jeden so wie er ist. Vielleicht ist es deshalb, dass Besucher manchmal sagen, sie hätten diese Dame "Inklusion" bei uns ganz deutlich gesehen? Ich zucke dann nur mit den Schultern, Popstars interessieren mich eh nicht so.
Apropos Scheitern: mehr und mehr Kinder sind allerdings zu erleben, "schwierige", die es eben bei den derzeitigen Umwälzungen im Schulsystem schwerer haben als zuvor. Bis sich mal jemand richtig um sie kümmert, ist schon viel gescheitert...
Aber den Fans geht es um ihren Star, nicht um die Kinder. Und wenn Fans so richtig in Schwung kommen und in der Masse auftreten und die Straße ihnen gehört, da kann schon mal ordentlich was kaputt gehen...
Dorothea Meichsner, 01.04.15 20:04
Das Spezialgebiet von Herrn Köhler scheint es zu sein, zu provozieren und Vorwürfe zu verteilen. Vielleicht muss es das auch geben... Leider berichtet er kaum einmal von eigenen praktischen Erfahrungen. Das wäre bedeutend hilfreicher und dann auch glaubwürdiger... Und in einer Zeitschrift für Waldorfpädagogik wäre es schön zu erfahren, was hier getan wird und getan werden könnte, statt immer nur "das System" anzuklagen. Waldorfschulen haben fast die größten Freiheiten in Deutschland. Da könnte auch innerhalb des bestehenden politischen Systems sehr viel mehr für die Inklusion (oder sagen wir besser erstmal: für die lernzieldifferente Integration, denn an 100% Inklusion glaube ich auch nicht) getan werden, als im Moment geschieht. Wenn man das will. Oder sind solche Artikel am Ende der Angst vor der neuen Herausforderung geschuldet? Verstehen könnte ich das, denn ich bin Lehrerin und weiß, dass Integration selten so ganz ohne immer neue Herausforderungen möglich ist. Aber dann soll man auch ehrlich sein...
Henning Köhler, 27.04.15 15:04
Liebe Frau Meichsner,
als kritischer Zeitgenosse halte ich es für nötig, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und vor Fehlentwicklungen zu warnen. Tatsächlich können Sie das als ein Kernanliegen meiner Kolumne und anderer Zeitschriftenbeiträge von mir begreifen. Wer sich dadurch provoziert fühlt, wird wissen, warum. Über die pädagogische und heilpädagogische Praxis habe ich aber auch eine Menge geschrieben. Meine Überzeugung ist nur: Wir müssen die Dinge, auch wenn es weh tut, klar durchschauen - sonst wird's nichts mit der Praxis. Soll ich z.B. in einer 2800-Zeichen-Kolumne darlegen, wie "man" mit sog. verhaltensauffälligen Kindern umgeht? Darüber findet sich eine Menge in meinen Büchern (allerdings ohne "man" ... gemeint ist immer die individuelle, situative Kunst des Erziehens samt Übungswegen dorthin). Das kann man auch in meinen Fortbildungen erfahren, die übrigens von vielen Erzieherinnen und Lehrerinnen besucht werden, darunter etliche mit langer Berufserfahrung. Warum fühlen Sie sich nur so angegriffen, wenn ich über gesellschaftliche Entwicklungen zu Lasten unserer Kinder, über unklares Denken in der Inklusionsfrage, zum ADHS-Thema etc. schreibe?
Um mitzuhelfen, dass Waldorfkindergärten, Waldorfschulen die ihnen gewährten (schwindenden) Freiheiten auch wirklich nutzen, bin ich permanent unterwegs, und da geht es dann um zahlreiche ganz praktische Fragen, aber mehr noch um "die innere Ebene der pädagogischen Beziehung." Tut mir leid, dass meine kritischen Kolumnen (es gab ja auch etliche andere) Ihnen aus irgendwelchen Gründen so gegen den Strich gehen. Andere freuen sich jeden Monat darauf. Es ist vielleicht eine Frage der Debattierlust. (Was den Praxisbezug angeht: Ich stehe seit über 30 Jahren permanent in der Arbeit mit Kindern und Familien. Kein Wort hören Sie von mir, das nicht praktisch gedeckt wäre. Vielleicht gefällt Ihnen ja die Mai-Kolumne etwas besser: Kleine Momentaufnahme eine der wunderbaren Einrichtungen, mit denen ich verbunden bin (und die ein bisschen nach meinen praktischen Anregungen arbeiten).
Mit freundlichem Gruß
Henning Köhler
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