Die letzte Begegnung

Jonas Göken

Ein kühler Abendwind ließ die wenigen bunten Blätter an den Bäumen rascheln. Hin und wieder löste sich ein Blatt und schwebte wie von Geisterhand getragen auf die Erde. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Zweige. In einer Stunde würde sich Dunkelheit über die herbstliche Landschaft legen.

Langsam, in träumerische Gedanken versunken, schritt ein junger Mann den breiten Waldweg entlang. Mit einem Mal blieb er stehen und ließ seinen Blick über das tief unter ihm liegende Tal schweifen. Dort lag sein Heimatdorf, eingebettet zwischen Wiesen und Feldern. Einige Hütten und kleine Häuser standen zusammengedrängt am Fuße eines Hügels, auf dem sich eine Kirche über die Dorfbewohner wachend in den Himmel reckte. Der Mann dachte daran, wie es sein würde, wenn er in einer Stunde heimkehrte. Seine Mutter würde am Herd stehen und ihn zu Tisch bitten. Der Vater säße in seinem Sessel und würde nur den Kopf schütteln. Er wusste, was der Vater von ihm dachte: Er war enttäuscht, dass sein jüngster Sohn kein Handwerk erlernen wollte. Wie oft hatte er ihm schon erklärt, dass die Dichtkunst sein wahrer Beruf war. Doch sein Vater hatte, das wusste er auch, schon längst die Hoffnung aufgegeben und ließ ihn in Ruhe.

Er wendete seinen Blick von dem Dorf ab und ging weiter in den Wald hinein. Plötzlich bemerkte er vor sich auf dem Weg eine gebückte Gestalt. Als der junge Mann diese einholte, sah er, dass sie eine alte Frau war. Sie blieb stehen und stützte sich auf ihren Stock. Er wollte schon weiter gehen, doch der Blick der Frau schien ihn aufhalten zu wollen. Im letzten Licht der untergehenden Sonne konnte er graue, gelockte Haare erkennen, die ein faltiges Gesicht umrahmten. Die hellblauen bleichen Augen musterten ihn. Auf einmal lächelte sie und ihre Augen leuchteten auf. »Hannes, bist du es? Mein Liebling, komm zu mir. Ich habe auf dich gewartet. Nun endlich bist du heim gekommen.« Sie breitete ihre zittrigen Arme aus. Er wusste nicht, was er tun sollte. Musste er ihr sagen, dass er nicht ihr Hannes war und sie nicht kannte? Doch wie würde sie das aufnehmen? Er entschloss sich, das Spiel mitzuspielen, da er Angst hatte, die alte Frau zu enttäuschen. Also trat er zu ihr. Langsam hob sie ihre Hand und betastete sein Gesicht. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Mein Liebling, verzeih mir für alles, was ich getan habe. Deine Großmutter wird bald sterben. Doch vorher musst du ihr verzeihen.«

Erstaunt blickte er sie an und fragte sich, was er jetzt nur machen sollte. Anscheinend verwechselte sie ihn mit ihrem Enkelsohn. »Wofür soll ich dir verzeihen?«, fragte er sie. Traurig blickte sie ins Tal hinunter. »Ich habe dir nie die Wahrheit über den Tod deines Vaters erzählt. Du warst zu klein und hättest es nicht verstanden. Später habe ich es nicht übers Herz gebracht, dir zu sagen, dass ich dich immer belogen habe.«

Sie schwankte und klammerte sich an dem Arm des jungen Mannes. Voller Mitleid stützte er sie. »Dein Vater ist nicht beim Holzhacken im Wald von einem Baum erschlagen worden. Ich bin schuld, mein Kind, ich habe die Tür vor ihm verschlossen.«

Schweigend hörte er der alten Frau zu. »Du warst gerade drei Jahre alt. Deine Schwester war bei mir in der Küche und spielte mit ihren Puppen. Du standest am verdunkelten Fenster und schautest durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen, wo dein Vater im Hof arbeitete. Du konntest nicht wissen, dass du ihn in diesem Augenblick zum letzten Mal sehen würdest. Erinnerst du dich an diesen Tag?« Gerade wollte er antworten, da fuhr sie auch schon fort: »Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Alles ging so schnell und doch sehe ich es noch klar vor mir: Als die Sirene losheulte und Fliegeralarm verkündete, schreckte deine Schwester auf und stieß sich den Kopf an einer Tischkante. Sie fing an zu weinen. Ich ließ alles stehen und liegen und nahm deine Schwester auf den Arm. Dann rief ich nach dir und zusammen rannten wir in den kleinen Keller unter unserem Haus. Doch die Sirene war viel zu spät losgegangen.«

Die alte Frau hielt inne. Ihre Hände krampften sich in seinen Arm. Er schauderte bei dem Gedanken daran, was sie ihm wohl nun erzählen würde. »Die Bomben fielen, noch bevor ich mit euch die Kellertreppe hinab gestolpert war. Die Motoren dröhnten am Himmel und die Detonationen der Einschläge ließen die Erde beben. Ich sagte euch, ihr solltet warten und ruhig sein. Dann ging ich noch einmal nach draußen. Du kannst dir die Verwüstung nicht vorstellen. Oder erinnerst du dich, mein Kind? Ich konnte deinen Vater nicht finden und dann … dann …« Ihre Stimme krächzte: »Dann habe ich die Tür aus Angst und zum Schutz der Kinder verschlossen. Ich habe sie verschlossen und es damit deinem Vater unmöglich gemacht, sein Leben zu retten.« Sie hob die bleichen Augen und schaute dem jungen Mann ins Gesicht. Er war zutiefst erschüttert über das Leid dieser Frau. Mühsam brachte sie ihre letzten Worte heraus: »Verzeihst … du mir?« Er schluckte und überlegte, was er sagen sollte. Schließlich antwortete er: »Ja, Großmutter.« Ein tiefer Frieden legte sich auf ihre Züge. Die Frau lächelte und ihre Augen weiteten sich vor Glück. Dann sank sie sanft in sich zusammen.

Noch lange stand er bei ihr und schaute auf sie hinab. Bei ihrem Anblick wusste er, dass er sie erlöst hatte. Die alte Frau hatte durch diese schicksalhafte Begegnung endlich ihren Seelenfrieden gefunden.

Tief bewegt ging er langsam heimwärts. Dunkelheit legte sich über das Tal und den Wald. Es war keine verängstigende, düstere Dunkelheit. Sie schien eine warme, umhüllende Ruhe zu spenden. Ruhe und Frieden für eine Frau, die ein be­wegtes Leben hinter sich gelassen hatte.

Zum Autor: Jonas Göken, Jahrgang 1993, besuchte die Waldorfschule Sorsum und steht jetzt vorm Abitur an der Waldorfschule Hannover-Maschsee.