Thomas Müller-Tiburtius | Der Charme des Fremden, Geheimnisvollen und Exotischen führt oft zu einer Orient-Sehnsucht. Was hat Sie in den Orient geführt?
Julia Gerlach | Bei mir hatte es eher mit Trotz als mit Orientalismus zu tun. Ich studierte Politikwissenschaften in Aix-en-Provence in Frankreich, hatte dort viele Kommilitoninnen mit algerischen Wurzeln. Einmal gab ich eine Party und hatte zwei von ihnen eingeladen, allerdings wollte die eine nicht kommen, wenn die andere kommt und andersherum. Der Grund war, dass der Großvater der einen im Algerienkrieg auf Seiten der Franzosen und der Großvater der anderen auf Seiten der Befreiungsfront gekämpft hatte. Als ich mich darüber wunderte, sagten die Mädchen: »Du wirst das nie verstehen!« Also habe ich beschlossen, es doch zu verstehen, oder es zumindest zu versuchen.
TMT | Neben dem positiven europäischen Orientbild, das in den vergangenen zwei Jahrhunderten nicht zuletzt von Karl May geprägt wurde, gibt es auch das negative. Demnach traut man den Menschen des Orients viel Schlechtes zu, wie der Literaturkritiker Edward Said bemerkt. Welche Wirkung hat das Orient-Bild der Europäer auf das Selbstbild und die Selbstachtung der Araber?
JG | Das Bild des Islam im Westen ist weitgehend negativ besetzt. Allerdings ist die Vorstellung, die die Menschen hier in Ägypten davon haben, wie der Westen über den Islam denkt, noch regelrecht rosig. Viele denken, dass die Europäer in ihrer überwiegenden Mehrheit auf den Islam herabschauen und ihn verabscheuen. Das kann man auf eine Art Minderwertigkeitskomplex zurückführen. Gerade heute habe ich wieder eine ägyptische Journalistin getroffen, die gar nicht glauben wollte, dass ich aus freien Stücken und aus Begeisterung für diese Kultur Arabisch gelernt habe. Aus ihrer Sicht waren meine Arabischkenntnisse ein eindeutiger Beweis dafür, dass ich eine Spionin bin.
TMT | Gibt es auf der anderen Seite typische, stereotype Vorurteile unter Arabern in Hinblick auf Europäer, denen man im Alltag wiederholt begegnet?
JG | Auch in der arabischen Welt gibt es uralte Vorurteile gegen Europäer. Zum Beispiel halten viele die Europäer für ungepflegt und ungewaschen. Dies ist eine Meinung, die bereits von alten Reisenden wie Rifaat al-Tahtawi vertreten wurde, der im 19. Jahrhundert nach Paris kam. Natürlich gibt es auch viele kulturelle Vorurteile, etwa dass die Deutschen immer ernst, fleißig und pünktlich sind. Ich erlebe hier manchmal, dass die Leute regelrecht empört sind, wenn ich nicht diesen Klischees entspreche und beispielsweise zu spät komme und dann auch noch Witze mache.
TMT | Europäische Touristen zog es in den vergangenen Jahrzehnten zu Tausenden in den Sand und die Sonne Tunesiens und Ägyptens. Welche Rolle spielen die europäischen Touristen in den arabischen Mittelmeerländern?
JG | Vor allem Touristinnen haben das Bild geprägt, das viele von Europa haben. Manche arabische Reisende sind regelrecht erstaunt, wenn sie in Deutschland feststellen, dass in der Regel die Menschen auf der Straße mehr anhaben, als Bikini und Hotpants. In Tunesien und Ägypten gibt es zudem eine Art Liebestourismus: Europäische Frauen kommen auf der Suche nach dem arabischen Lover und sind bereit, dafür zu bezahlen – entweder in Form von indirekten Geldzahlungen oder vielleicht auch durch eine Einladung nach Europa. Das führt natürlich zu einer nicht gerade positiven Einschätzung. Es gibt aber auch das Gegenteil: Immer wieder treffe ich Ägypter, die sich die europäischen Touristen zum Vorbild nehmen, die sich intensiv und mit Begeisterung die pharaonischen und islamischen Altertümer anschauen und sich für die Kultur interessieren. Inzwischen ist es bei der ägyptischen Mittelschicht schick, Urlaub im eigenen Land und dabei auch ein bisschen Kulturprogramm zu machen.
TMT | Das Gegenbild zu den Touristen sind die vielen Flüchtlinge, die die arabischen Mittelmeerstrände gegenwärtig als Sprungbrett nach Europa benutzen. Sie suchen nicht die Sonne, sondern die Sicherheit Europas. Wird die Flüchtlingsproblematik in den arabischen Küstenländern wahrgenommen? Sind die Dramen und Tragödien auf dem Mittel- meer ein Thema für ägyptische und tunesische Medien?
JG | Das Flüchtlingsthema spielt hier eine große Rolle. Die Regierung versucht, illegale Auswanderung zu unterbinden, allerdings ohne allzu großen Erfolg. Oft wird versucht, den Ausreisewilligen vor Augen zu führen, wie riskant die Überfahrt ist.
Allerdings zieht das Argument nicht immer: Ein junger Syrer sagte mir neulich: »Ich habe Homs überlebt, ich habe hier in Ägypten viele Probleme gehabt. Im Vergleich dazu ist das Risiko, bei der Überfahrt auf dem Meer zu sterben, extrem klein.«
TMT | Mit dem Migrantenstrom nach Europa ist die zunehmende Befürchtung der Überfremdung und die Angst vor einer schleichenden Islamisierung verbunden. Wird die ablehnende Haltung breiter Bevölkerungskreise gegenüber dem Islam in den arabischen Ländern wahrgenommen?
JG | Ja, hier machen sich viele große Sorgen, dass als Reaktion auf die Anschläge von Paris wieder eine Welle von anti-islamischem Hass und Misstrauen durch Europa rauschen könnte und Muslime, die sich selbst als Opfer der radikalen Islamisten des Islamischen Staats sehen, mit diesen Terroristen in einen Topf geworfen werden.
TMT | Als es zu den Anschlägen in Paris kam, waren nicht nur die Franzosen, sondern die Bürger Europas entsetzt. Der Terror mit seinen Auswirkungen dominiert seitdem die Schlagzeilen. Wie wird in den arabischen Medien darauf reagiert, dass im Namen des Islam in Europa gemordet wird?
JG | Hier ist der islamistische Terror ja sehr viel präsenter und arabische Journalisten sind schon sehr viel länger in Gefahr, von radikalen Islamisten angegriffen zu werden. Bombenanschläge, Attentate und auch Entführungen haben in diesem Teil der Welt in den letzten Jahren sehr zugenommen. So war bei vielen Kommentatoren die erste Reaktion: Jetzt sehen die Europäer mal, wie das ist. Viele werfen Europa vor, die arabischen Regierungen nicht genug zu unterstützen im Kampf gegen den Terror und dann gibt es auch sehr viele, die Europa und die USA überhaupt erst verantwortlich machen, dass so viele Terrorgruppen entstanden sind.
TMT | Terroristen kennen die Macht der Bilder und setzen sie bewusst ein. Halten die arabischen Medien Terrorbilder zurück, üben sie Selbstzensur aus?
JG | Nein, leider gibt es hier sogar noch stärker als in den europäischen Medien eine Konkurrenz um die stärksten Bilder und die reißerischste Berichterstattung. Und unter den Terror-Gruppen gibt es eine Art Konkurrenz, ihre Taten besonders drastisch darzustellen.
TMT | Wie haben die arabischen Karikaturisten auf das Attentat auf »Charlie Hebdo« reagiert?
JG | In vielen Karikaturen ging es um die bedrohte Pressefreiheit und es wurden Karikaturisten als Freiheitskämpfer dargestellt, die sich mutig gegen Angriffe wehren. In vielen Zeichnungen wurde aber auch klar gemacht, dass die Zeitschrift »Charlie Hebdo« durch die Veröffentlichung vieler antiislamischer Zeichnungen die Stimmung erst angeheizt hat, die den Terror gedeihen lässt.
TMT | Gibt es eine Grenzlinie, die arabische Karikaturisten in ihren Zeichnungen nicht überschreiten dürfen? Ist es gesellschaftlicher Konsens, dass die Meinungsfreiheit vor dem Islam haltzumachen habe?
JG | Religion ist im allgemeinen tabu. Was politische Witze angeht: Da gibt es von Land zu Land unterschiedliche rote Linien. Darauf angesprochen verteidigen viele die Tabus als eine Art, den inneren Frieden zu wahren. Man müsse ja nicht unbedingt die Gefühle der Religiösen verletzen. Viele halten es für heuchlerisch, wenn wir uns über diese Haltung mokieren. Schließlich gebe es ja auch in Europa Tabus: Dass man keine antisemitischen Karikaturen veröffentlicht zum Beispiel.
TMT | Der Koran ist auch ein Buch der Sprachbilder. Dort heißt es zum Beispiel, Allah sitze auf einem Thron. Sprachbilder dieser Art konkret als Malerei oder Zeichnung darzustellen ist im Islam jedoch sehr brisant. Wie begründen Muslime die restriktive Haltung gegenüber der Verbildlichung religiöser Inhalte?
JG | Es handelt sich um ein religiöses Gebot, das ja auch im Christentum vorhanden ist.
TMT | Die Problematik der Verspottung religiöser Inhalte für die muslimische Welt hat sich spätestens in dem Karikaturenstreit gezeigt, den die dänische Zeitung »Jyllands Posten« 2005/2006 bewusst herbeigeführt hat. Sie haben damals in ihrem Buch »Zwischen Pop und Dschihad« das Vorgehen von »Jyllands Posten« als primitive Provokation bezeichnet.
JG | Zu diesem Thema gibt es zwei Haltungen: Die Trotzigen sagen: Wir haben das Recht, unsere Meinung zu sagen und daran kann uns keiner hindern. Die Vernünftigen setzen dem entgegen: Auch wenn ich das Recht habe, zu veröffentlichen, was ich will, so brauche ich das nicht zu tun, wenn ich weiß, dass ich damit die Gefühle anderer verletze und den Radikalen damit eine Vorlage biete, die ungebildeten Gläubigen zu gewaltsamen Reaktionen anzustacheln. Oft hat man den Eindruck, dass die Hauptabsicht bei der Veröffentlichung solcher Schmähbilder ist, dass man mal wieder demonstrieren kann, wie dumpf und hinterwäldlerisch die Muslime sind. Das ist nicht unbedingt ein Beitrag zur Völkerverständigung.
TMT | Nun prallen die zwei verletzten Prinzipien Religions- und Pressefreiheit nahezu ungebremst aufeinander. 2006 schrieben Sie: »Es sind Verletzungen zwischen Orient und Okzident entstanden, die nur langsam verheilen werden.« Was sagen Sie heute?
JG | Die Gewalt ist seither extrem gestiegen und es hat sich eine Menge angestaut, was die Vorurteile übereinander angeht. Allerdings finde ich auch, dass wir einen guten Schritt weiter gekommen sind. Viele haben erwartet, dass als Reaktion auf die Anschläge von Paris eine riesige Welle von antiislamischen Ressentiments in Europa losgetreten wird. Es gibt sie, aber längst nicht so groß, wie befürchtet. Auch haben viele mit Wutausbrüchen auf der arabischen Straße gerechnet, mit brennenden US-Fahnen und Botschaften, so wie 2006. Aber das ist bisher auch ausgeblieben. Das liegt nicht nur daran, dass die Leute auf dieser Seite des Mittelmeeres gerade andere Probleme haben. Man könnte direkt meinen, die Menschen haben dazugelernt.