Das wird als Spiel und Kommunikation bezeichnet, als hätten sie vergessen, dass – wie eine neue Studie aus Stuttgart nachweist – jedes vierte Kind bei der Schuleingangsuntersuchung nicht mehr hüpfen kann. Ein Zusammenhang wird nicht hergestellt.
Leben ohne Gehirn?
Wenn ein Computer zu 70 Prozent zerstört ist, ist er unbrauchbar. Wenn im Gehirn 70 Prozent der Nervenzellen durch Parkinson zerstört sind, kann der Mensch noch gut leben. Warum ist das so? Nervenzellen empfangen von anderen Nervenzellen elektrische Signale, die an sogenannte Synapsen übertragen werden. Jede von den 100 Milliarden hat 10.000 Verbindungen. Die Anzahl dieser Verbindung in ihrem Kopf ist also 100.000.000.000 x 10.000 das gibt 1 Million Milliarden.
Synapsen ändern sich, wenn sie benutzt werden. Sie wachsen und werden größer. Der gleiche Impuls hat einen größeren Effekt, wenn die Kontaktfläche, an der die Biochemie abläuft, größer ist. Das heißt, es ändert sich die »Hardware« Gehirn immer dann, wenn das Gehirn aktiv ist, wenn Sie also wahrnehmen, denken, fühlen oder wollen. Es ist völlig egal, was Sie geistig machen, es ändert Ihr Gehirn, weil jede geistige Arbeit von Nervenzellprozessen begleitet ist. In einem Computer ist das anders: ein Bestandteil (die sogenannte CPU) rechnet, ein anderer (die Festplatte) speichert. Auch Nervenzellen verarbeiten Information, aber dadurch, dass sie sich Impulse zuschieben, ändern sich die Verbindungen zwischen ihnen – und das ist der Speicher! Die Verarbeitung und die Speicherung werden also durch ein und dieselbe Struktur erledigt. Diese Tatsache, dass in unserem Gehirn Verarbeitung und Speicherung identisch sind und die Verarbeitung automatisch zur Speicherung führt, ist für unser Verständnis von Lernen von entscheidender Bedeutung. Lernen bedeutet, sein Gehirn zu benutzen, und je mehr man dies tut, desto mehr wird gelernt. Je intensiver wir etwas erleben oder über etwas nachdenken, desto mehr wird gelernt. Zugleich ist auch eines klar: Das Gehirn kann eines nicht: nicht lernen.
Der unendliche Speicher
Stellen Sie sich zwei 40-Jährige vor. Der eine kann Deutsch, der andere kann Deutsch und vier Fremdsprachen. Beide lernen nun eine neue Sprache. Wer kann es besser? Jeder gibt auf diese Frage die Antwort, die auch die Wissenschaft vom Lernen gibt: Es lernt derjenige schneller und besser, der schon mehr Sprachen kann. Beim Erlernen eines neuen Musikinstruments oder dem Erlernen der Benutzung eines neuen Werkzeugs ist es ebenso. Mit dem Computer verhält es sich anders: Wenn die Festplatte zu 50 Prozent voll ist, passen noch 50 Prozent rein, und wenn sie zu 90 Prozent voll ist, passen noch 10 Prozent rein. – Wie die gerade genannten Beispiele zeigen, hat unser Gehirn als Speichermedium dagegen die paradoxe Eigenschaft, dass umso mehr hineinpasst, je mehr schon drin ist. Es wird nicht voll. Sie bauen auf dem auf, was Sie schon wissen. Und je mehr Sie schon wissen, desto besser können Sie lernen!
Diese Erkenntnis ist übrigens alles andere als neu. Seit über 150 Jahren spricht man vom hermeneutischen Zirkel, der darin besteht, dass man sich beim Einarbeiten in einen neuen Sachverhalt zunächst immer schwer tut. Dann geht es immer besser und immer schneller. Daraus folgt leider auch, dass je weniger Sie wissen, Sie auch in Zukunft weniger lernen. Deswegen schicken wir Kinder und Jugendliche auch in die Schulen und nicht auf die Felder und in die Fabrik. Denn das Fenster des schnellen Lernens schließt sich mit etwa 20 bis 25 Jahren – solange dauert etwa die Gehirnentwicklung. Wenn Sie in dieser Zeit viel gelernt haben, werden Sie in der Lage sein, auch weiter viel zu lernen. Wer allerdings bis in dieses Alter nur wenig gelernt hat, wird sich mit dem lebenslangen Lernen schwer tun.
Bis ins junge Erwachsenenalter verändert sich das Gehirn durch das Lernen, wird effektiver, schneller, leistungsfähiger. Das macht sich dann im Alter bemerkbar, wenn die Gehirnleistung abnimmt. Das Wort »De-mens« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »De« = »herab« und »mens« = »Geist«, also geistiger Abstieg. Und für den geistigen Abstieg gilt, was für jeden Abstieg gilt: Je höher man anfängt, desto länger dauert es, bis man unten angekommen ist.
Hierzu gibt es interessante Untersuchungen. Schwester Maria beispielsweise war mit 20 in einen Orden eingetreten und hat aus diesem Anlass ihren Lebenslauf geschrieben – ein wunderbarer Text, klug und differenziert. Dann arbeitete sie als Lehrerin, bis sie 84 Jahre alt war, und dann hat sie weiter gearbeitet, inoffiziell, als Lehrerin, bis sie im Alter von 101 Jahren verstarb. Zuvor hatte man mit ihr einen sogenannten Demenztest gemacht, der deutlich machte, dass ihr Gedächtnis wunderbar arbeitete. Sie war offensichtlich nicht dement. Nach ihrem Tod hat man ihr Gehirn untersucht: Es war in starkem Ausmaß von der Alzheimerschen Krankheit befallen. Aus solchen Fällen kann man ableiten, dass ein in Kindheit und Jugend gut gebildetes Gehirn auch dann noch gut funktionieren kann, wenn es an der Alzheimerschen Krankheit erkrankt ist. Jeder kann in jungen Jahren Dinge tun, die für die Gehirnentwicklung förderlich sind: aktiv musizieren, Sport treiben, Theater spielen, mit den Händen kreative Leistungen vollbringen (malen, basteln etc.), Fremdsprachen lernen und vieles mehr. Wir können aber auch die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, zum Beispiel durch Fernsehen.
Fernseher ohne Uniabschluss
Etwa zweitausend 5-Jährige wurden im Rahmen einer von deutschen Kinderärzten durchgeführten Studie gebeten, einen Menschen zu zeichnen. Zugleich wurden die Mütter gefragt, wieviele Stunden das Kind täglich fernsieht. Je mehr dies der Fall war, desto undifferenzierter waren die Zeichnungen (Abbildung 1).
Abb. 1: »Zeichne einen Menschen« war die Aufgabe, der 5-jährige Kinder gerne nachkommen. Oben sind beispielhafte Zeichnungen von Kindern zu sehen, die täglich weniger als eine Stunde fernsehen; unten Zeichnungen von Kindern mit einem Fernsehkonsum von täglich drei Stunden und mehr (nach Winterstein & Jungwirth, 2006, »Kinder- und Jugendarzt 37«: 205–211).
Ähnliches zeigen Längsschnittdaten zum Fernsehkonsum: Kinder, die im Alter von fünf Jahren weniger als eine Stunde ferngesehen haben, besitzen mit 30 Jahren zu über 40 Prozent einen Universitätsabschluss. Bei Kindern mit über drei Stunden TV-Konsum im Alter von fünf Jahren, lag der Anteil der späteren Erwachsenen mit Uni-Abschluss nur bei knapp zehn Prozent (Abbildung 2).
Abb. 2: Einfluss des täglichen Fernsehkonsums in Kindheit und Jugend auf die berufliche Qualifikation im Alter von 26 Jahren. Jede Säule entspricht 100 % der jeweiligen Untergruppe mit einem täglichen Fernsehkonsum von weniger als einer Stunde, ein bis zwei Stunden, zwei bis drei Stunden und mehr als drei Stunden (rot: kein Abschluss; dunkelgrau: Schulabschluss; hellgrau: beruflicher Abschluss; weiß: Universitätsabschluss; Grafik: Autor)
Man hat in den USA Versuche mit Mäusen gemacht, um diese Daten zu überprüfen. Junge Mäuse wurden für täglich sechs Stunden mit dem Ton des TV-Kinderkanals beschallt, und zugleich buntem Flackerlicht ausgesetzt. Diese Art von »Zwangsfernsehen« geschah während ihrer gesamten Kindheit und Jugend, was bei Mäusen nur wenige Wochen dauert. Danach wurde noch zehn Tage abgewartet, um nicht »akute Verwirrung« durch die Töne und das Licht zu messen, sondern die Effekte auf die Entwicklung der Tiere. Wie der Vergleich zu Kontrolltieren ohne Töne und Flackerlicht zeigte, waren die Fernsehmäuse hyperaktiv, zeigten eine höhere Risikobereitschaft, hatten Lern- und Gedächtnisprobleme sowie mangelndes Interesse an Neuem. Nun sind Menschen keine Mäuse. Aber die Beweislage für die Wirkung von Fernsehkonsum in der Kindheit ist doch eindeutig. Denn auch Kinder, die in ihrer Kindheit viel fernsehen, sind ebenso unaufmerksam, wenig neugierig, risikobereit und gedächtnisschwach.
Wissen steckt in den Händen
Seit 1997 wissen wir, dass Bewegung für mehr Nervenzellen sorgt. Wenn Sie joggen, wachsen in Ihrem Gehirn Nervenzellen nach. Das beste Gehirnjogging ist also Jogging! Sind die Zellen erst einmal nachgewachsen, müssen Sie diese Nervenzellen jedoch auch nutzen, um sie mit den schon vorhandenen Nervenzellen zu verbinden. Kreuzworträtsel beispielsweise sind hierzu ungeeignet, denn sie rufen ja nur bekanntes Wissen ab. Neue Nervenzellen müssen aber neue Informationen speichern, um wirklich gebraucht zu werden. Sich mit Ihren Enkeln oder Kindern zu beschäftigen, die ständig unbequeme Fragen stellen, ist dagegen ein gutes Mittel, um Ihre neuen Nervenzellen zu benutzen und dadurch für ihre Einbindung in schon vorhandene Netzwerke zu sorgen. Man könnte auch sagen, dass der Sportlehrer die Hardware züchtet, die seine Kollegen dann mit Informationen bespielen.
Der Zusammenhang von Lernen und Bewegen ist damit noch keineswegs erschöpft, denn Wissen baut auf Bewegung auf. Je mehr Fingerspiele Sie im Kindergarten machen, desto besser sind Sie als Erwachsener in Mathematik. Denn die Zahlen kommen über die Finger ins Gehirn: Nicht umsonst hat das englische Wort »Digit« zwei Bedeutungen: »Finger« und »Zahl«! Alle hochstufigen Denkareale Ihres Gehirns haben mit der Außenwelt gar keinen direkten Kontakt, sondern erhalten ihre Informationen von Arealen, die sensorische oder motorische Aufgaben erfüllen. Deshalb gibt es nichts Dümmeres, als Babys vor das Smartphone oder das Tablet zu setzen. Denn die Kinder können keine für einzelne Objekte spezifischen Bewegungen lernen, wenn sie immer über die gleiche eigenschaftslose Glasoberfläche mit der immer gleichen Bewegung wischen. Jeden Gegenstand muss man anders anfassen, um ihn dadurch zu begreifen. Zudem hat jeder Gegenstand eine andere Oberfläche, eine andere Form und fühlt sich je nach Material (Plastik, Holz, Metall oder Stoff) anders an. Diese Unterschiede muss ein Kind spüren. Deshalb ist es nahezu kriminell, eine Babyliege für Null- bis Zweijährige mit Bildschirm zu vertreiben. Die Kinder lernen dadurch nichts.
Kinder haben bekanntermaßen einen hohen Bewegungsdrang. Sie wollen ausprobieren, Gegenstände von A nach B tragen, aufheben und fallen lassen und so weiter. Dies ist keineswegs so sinnlos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das Kind versucht vielmehr mit all seinen Aktivitäten dauernd herauszufinden, wie etwas funktioniert, wie etwas geht, wie ein Stein auf den anderen gebaut werden kann usw., und so lernt es und lernt es in einem fort. Das geht nur mit der realen Welt, mit richtigen Steinen, wirklichem Sand oder tatsächlichem Wasser.
Digital geht es hingegen nicht! Wenn also etwa 8.000 deutsche Kindergärten mit dem Programm »Schlaumäuse« von Microsoft arbeiten, ist dies keine Bildungsmaßnahme, sondern ein Programm zur Unbildung. Wenn immer mehr Kindergärten Tablets zum Wischen einführen, sollten sich die Eltern später nicht wundern, wenn die Bildung ihrer Kinder nur für einen Putzjob reicht!
Keine Bildungsgerechtigkeit durch Tablets
Am 1.10.2015 berichtete die »Tagesschau«: »Smartphones setzen Kinder unter Stress«. Es wurden Daten von 8- bis 14-Jährigen erhoben und dabei kam heraus: 48 Prozent fühlen sich abgelenkt, vor allem bei den Hausaufgaben, 24 Prozent haben Stress, weil dauernd irgendeiner etwas Belangloses mitteilen will, zum Beispiel, »Ich esse gerade Gummibärchen«. 20 Prozent sagen, sie hätten wegen ihres Smartphones schulische Schwierigkeiten. Londoner Wirtschaftswissenschaftler haben im Mai 2015 eine Studie publiziert und hierzu 90 Schulen im Großraum London identifiziert, die in den Jahren 2002 bis 2012 ein Handyverbot eingeführt hatten. Die Forscher besorgten sich die Schulnoten von allen über 130.000 Schülern, und zwar über den Zeitraum von fünf Jahren vor bis fünf Jahren nach dem Handyverbot. Dann wurde über alle Schulen und Schüler der Notendurchschnitt so berechnet, dass am Tag Null das Handyverbot für alle begann. Was kam heraus? Bereits ein Jahr nach dem Handy-Verbot hatten sich die Leistungen der Schüler signifikant verbessert. In den folgenden Jahren nahm diese Verbesserung dann sogar noch weiter zu. Zudem zeigte sich: Je schlechter die Schüler vor dem Verbot waren, desto mehr profitierten ihre Leistungen davon. Anders gesagt: die 20 Prozent besten Schüler wurden nach dem Handy-Verbot nicht besser, die 20 Prozent schlechtesten Schüler verbesserten sich hingegen am deutlichsten. In den USA hatte man schon einige Jahre zuvor das gegenteilige Experiment gemacht: Man schenkte 17-jährigen Schülern, die noch kein Handy hatten, ein iPhone. Dann wartete man ein Jahr ab. Was passierte? Die Schüler wurden schlechter in der Schule, klagten über mehr Ablenkung und schlechtere Lernleistungen.
Halten wir fest: Wenn man Smartphones ausgibt, werden Schüler schlechter, wenn man sie verbietet, werden sie besser. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem, was wir über die Auswirkungen von Computern an Schulen bereits wissen: Niemand wird besser, aber die Leistungen der schwachen Schüler werden noch schlechter. Daher ist es falsch, zu behaupten, für mehr Bildungsgerechtigkeit müssten wir digitale Endgeräte insbesondere an die schwachen Schüler verteilen. Das ist ideologisch getriebenes Wunschdenken, Bildungsgerechtigkeit entsteht nachweislich nicht durch Digitalisierung von Schulen. Im Gegenteil: Die unsoziale Bildungsverteilung verstärkt sich durch den Einsatz digitaler Medien. Doch das wollen die Kultusminister nicht hören.
Googlen ist kein Wissen
Oft wird gesagt, Wissen sei gar nicht mehr wichtig, da man doch alles googlen könne. Das ist falsch, denn zur Verwendung einer Suchmaschine braucht man Vorwissen: Sie können nur sinnvoll googlen, wenn Sie schon etwas über den Sachverhalt, um den es geht, wissen; und wenn Sie kein Wissen in dem Bereich haben, in dem Sie Informationen suchen wollen, nutzt Ihnen Google nichts. Denn Sie können die Wahrheit und Falschheit der vielen von der Suchmaschine angezeigten »Hits« nur dann unterscheiden, wenn Sie sich auf dem Gebiet, um das es gerade geht, schon auskennen. Gehirne machen keine Downloads! Vielmehr beschäftigen sich Menschen mit Sachverhalten, was deren Gehirne verändert. Und das nennen wir Lernen.
Wissenschaftler haben vor sechs Jahren gezeigt, dass wenn man Informationen per Buch, per Zeitung, per Zeitschrift oder per Google darbietet und ein paar Tage später misst, dann bleibt am wenigsten hängen, wenn Sie die Infos gegoogelt haben. Googeln ist also zum Lernen von allen Medien am schlechtesten geeignet. Wenn es aber so ist, dass Sie Vorwissen zum Googlen brauchen, aber durch googlen kein Wissen in Ihr Hirn reinkommt, dann folgt ganz klar, dass Sie in der Schule nicht googeln sollten – und zwar gerade dann, wenn Sie möchten, dass man nach Abschluss der Schule besonders gut googeln kann! Googeln lernt man, indem man sich viel Wissen aneignet. Und wenn man viel weiß, dann kann man googeln. Wissen auslagern geht nicht. Unser Gehirn ist kein Computer. Die falsche Vorstellung von unserem Gehirn als Computer wird aber dauernd verwendet, um die Digitalisierung in Kindergarten und Schule voranzutreiben.
Es gibt kein digitales Lernen
Menschen lernen seit Hunderttausenden von Jahren, so wie sie lernen, nämlich durch Nachahmung, Einsicht oder Erfahrung. Eine Studie, 2014 erschienen mit dem Titel »Der Zusammenhang zwischen Handyverwendung, akademischer Leistungsfähigkeit, Angst und Lebenszufriedenheit bei 17-Jährigen« belegt: Je mehr sie ihr Smartphone benutzen, desto schlechter sind sie in der Schule, desto ängstlicher sind sie, und beides macht sie unzufriedener mit ihrem Leben. Eine weitere Studie weist nach, je mehr Zeit die Jugendlichen vor Bildschirmmedien verbringen, desto weniger Empathie haben sie für Eltern und Freunde. Das Mitgefühl geht verloren, da soziales Lernen sich nur ereignet, wenn man mit Leuten zusammen ist. Die von Sechsjährigen in Deutschland am häufigsten benutzte App ist Facebook. Schon Drei- bis Fünfjährige sind eine halbe Stunde am Smartphone. Das kann einem Angst machen, denn soziale Fähigkeiten kann man nicht am Bildschirm erwerben. Wie wollen sie am Bildschirm Mitgefühl lernen, wenn da keiner ist?
Angriff auf den Willen
Wie lernt man Willensbildung, also »sein Ding zu machen«, wie Udo Lindenberg sagen würde? – Man lernt es, indem man es macht, so wie wir Laufen lernen und Sprechen lernen – mit tausenden Versuchen und immer wieder neuen Erfahrungen. Auch das Wollen lernt man, indem man immer wieder etwas will und es dann auch tut: Kinder singen ein Lied, bauen einen Turm, klettern auf einen Baum, malen ein Bild, spielen Fußball mit Freunden. In allen diesen Fällen hat man erst eine Idee davon, was jetzt getan werden soll, und dann setzt man diese Idee in eigenes Handeln um. Und danach ist man stolz auf das, was man – selber – gemacht hat. Das Kind hat aber nicht nur Singen, Bauen, Bäumeklettern, Malen oder Fußballspielen gelernt. Nein, es hat Willensakte ausgeführt und jedes Mal, ganz nebenbei, auch gelernt: Ich kann eine Idee haben und diese Idee in die Welt bringen.
Ein Smartphone sabotiert diesen Prozess der Willensbildung auf mehrfache Weise: Man hat gar keine Zeit, selber eine Idee zu formen, denn man schaut täglich mehr als 200 Mal darauf, und es sagt einem, was zu tun ist. Und wenn man mal eine Idee umsetzen möchte, dann stört das Smartphone ständig dabei, es lenkt ab.
Ich kenne keinen größeren Willensbildungskiller als das Smartphone. Nicht umsonst war »Smombie«, also Smartphone-Zombie (Zombie = willenloser Mensch) das Jugendwort des Jahres 2015. Die Jugend hat also schon selbst begriffen, dass das Smartphone Willensbildungsprozesse beeinflusst! Unsere Politiker noch nicht.
Halten wir fest: Digitale Medien und insbesondere das Smartphone verhindern nachweislich Bildung, Willensbildung und Empathie bei Kindern und Jugendlichen. Zugleich handelt es sich bei Bildung, Willensbildung und Empathie aber um die drei Säulen unserer Gesellschaft. Wenn es keine Bildung mehr gibt, wie soll man selbstständig denken und urteilen lernen? Wie soll man ohne Willensbildung wählen gehen? Und wenn es keine Empathie mehr gibt, gibt es keine Solidarität mehr.
Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens schadet digitale Informationstechnik bei unkritischer Verwendung der körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Entwicklung junger Menschen und damit deren Gesundheit nachweislich. Wir können diese Entwicklung nicht einfach so weiterlaufen lassen und unsere nächste Generation verantwortungslos den Profitinteressen von Apple, Google und Microsoft überlassen.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, gehalten am 19. November 2016 in Hannover, auf dem Kongress »Recht auf Kindheit« der Vereinigung der Waldorfkindergärten.
Zum Autor: Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm.