Die Nummer gegen Kummer

Sophia | Wie lange bist du schon beim Kinder- und Jugendtelefon?

Maria | Seit sechs Jahren – und du?

Sophia | – Seit einem halben Jahr. Vorher machte ich eine Ausbildung für »Jugendliche beraten Jugendliche«. Wir jugendlichen Berater sind zwischen 16 und 21 Jahren alt und sitzen nur samstags am Telefon und, anders als ihr Erwachsenen, immer zu zweit. Was sind unter der Woche die häufigsten Themen?

Maria | Partnerschaft und Liebe dominieren deutlich, gefolgt vom Thema Sexualität. Die andere Hälfte sind Test- und Scherzanrufe. Wie gehst du damit um?

Sophia | Ich versuche, den Anrufer immer ernst zu nehmen, auch wenn sich später manches als Scherz herausstellt. Aber wenn sie mich zu sehr nerven, dann weise ich sie darauf hin, dass andere vielleicht eine ernsthafte Beratung wünschen. Und du?

Maria | Ich bemühe mich, es von der sportlichen Seite zu nehmen und schlagfertig zu reagieren. Ich tröste mich damit, dass manche erst mal austesten wollen, wie es ist, bei uns anzurufen, bevor sie mit einem wirklichen Problem kommen. Manches Gespräch fängt mit einer »Pizzabestellung« an und geht dann doch in eine vertrauensvolle Beratung über. Da man durchschnittlich siebzehnmal versuchen muss, bei uns durchzukommen, ist der Anrufer vielleicht überrascht, wenn plötzlich jemand den Hörer abnimmt.

Sophia | Viele langweilen sich auch nur. Viele wissen nichts mit sich anzufangen, wenn die Dauerberieselung aus dem Fernseher, Computer oder Radio fehlt.

Mobbing

Maria | Ich habe allerdings beobachtet, dass Kinder Ratschläge hören wollen. Sie geben sich, je jünger sie sind, oft gleich nach dem ersten Tipp zufrieden. Doch manchmal hilft gar nichts, kein Vorschlag und keine ermutigenden Worte. Es kommt sogar vor, dass wir beschimpft werden. Nach so einem Gespräch fühle ich mich häufig erschöpft, weil ich nicht helfen konnte. Das gilt besonders für das Mobbing bei den 13- bis 15-Jährigen. Wie gehst Du da vor?

Sophia | Ich empfehle meistens ein Gespräch mit Freunden, einem Menschen ihres Vertrauens. Außerdem versuche ich herauszufinden, wie man den Mobbenden den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Wenn jemand gehänselt wird, weil er dick ist, hilft es manchmal, wenn er den Mobbenden zustimmt, dass er etwas dicker sei, aber dazu stehe. Die werden erkennen, dass ihre Vorwürfe nicht verletzen und – verlieren ihren Spaß daran. Manchmal hilft es auch, sich aus dem Weg zu gehen oder einen Selbstverteidigungskurs zu machen oder sich in einem Verein zu engagieren, um das Selbstbewusstsein zu stärken und neue Freunde zu finden. In letzter Konsequenz muss man die Schule wechseln.

Maria | Das kenne ich auch: Wenn ein Schüler sich traut, vor der Klasse das Problem anzusprechen und ehrlich sagt, was das mit ihm macht, kann das Mobbing schlagartig aufhören, denn dieser Mut verlangt Respekt ab. Wir Lehrer bekommen oft gar nicht mit, wie schlimm Mobbing in Abwesenheit von Erwachsenen sein kann. – Wie lange dauern denn Deine Gespräche normalerweise?

Sophia | Die Hälfte unserer Gespräche dauert etwa fünf Minuten. Die Einfühlung in der kurzen Zeit aufzubauen, ist eine Herausforderung, aber vielleicht für uns in der »Peer­Education« noch leichter als für euch, denn die Hälfte der Anrufer sind 14, 13 oder 12 Jahre alt.

Maria | Spannend ist für mich auch, ganz schnell herauszufinden, wer da – meist per Handy – anruft. Wichtig sind Alter und Verständnishorizont, kulturelles Milieu, da auch Musliminnen anrufen, Bildungsgrad und natürlich das Geschlecht, das man nicht immer sofort erkennt. Ich muss ja meine Fragen und Beiträge für die Persönlichkeit am anderen Ende passend auswählen. In diesem Ehrenamt habe ich das Zuhören geübt und viel gelernt.

Thema Sexualität

Sophia | Ein Irrtum ist es, anzunehmen, dass die Kinder und Jugendlichen vollständig aufgeklärt seien. Oft stellen sie die einfachsten Fragen zur körperlichen Entwicklung, Sexualität und Verhütung.

Maria | Ich war überrascht, dass das Thema Inzest immer wieder aufkommt – in allen Konstellationen. Auch die junge Freundin des Vaters, die sich in dessen Abwesenheit an den 17-jährigen Sohn ranmacht. – Gespräche mit Missbrauchsopfern fangen meistens sehr leise an, dauern oft eine Stunde und lassen mich ziemlich bedrückt zurück.

Sophia | Missbrauchte Jungs haben darüber meist mit noch niemandem gesprochen. Was machst du nach einem solchen Telefonat?

Maria | Eine kleine Erholungspause, manchmal koche ich mir einen Tee. Zum Glück gibt es immer Süßigkeiten in unserem Büro. Und ich tröste mich mit dem Gedanken, dass dieser Mensch, gäbe es uns nicht, gar kein Ohr gefunden hätte: Genau dafür sind wir da. Und du?

Sophia | Da wir immer zu zweit am Telefon sitzen, wechseln wir danach. Und es helfen auch unsere regelmäßigen Supervisionsrunden, in denen wir belastende Gespräche thematisieren können.

Maria | Als Lehrerin, die ich die Probleme der Jugendlichen ganz gut zu kennen glaubte, erschrecke ich doch immer wieder beim Blick in die Abgründe unserer Gesellschaft.

Alkoholkranke, gewalttätige Eltern, Überforderung durch Verantwortung für die kleineren Geschwister, finanzielle Probleme oder aber Wohlstandsverwahrlosung kommen täglich dran. Nach solchen Gesprächen bin ich froh, wenn der Nächste »nur« Liebeskummer hat oder wissen will, wie er die Angebetete in der Nachbarklasse kriegen könnte.

Immer mehr Jungs suchen Rat

Sophia | Du bist schon einige Jahre dabei. Was hat sich verändert?

Maria | Im Lauf der Jahre nahm der Anteil der Jungs zu: Von rund einem Viertel im Jahr 2000 stieg er auf rund 40 Prozent im Jahr 2010. Das heißt, über Probleme anonym zu reden, wird für Jungs normaler. Die Themen von Jungs betreffen eher Sex, von Mädchen eher Partnerschaft und Liebe. »Schule« ist ein Randphänomen. Die verschiedenen Themen der Anrufer geben authentische Informationen über unsere Gesellschaft, denn im Gegensatz zu den durch Wissenschaftler gesteuerten Interviews für Kinder- und Jugend­studien melden sich die Ratsuchenden hier auf eigene Initiative. Dadurch können wir gut die Veränderungen der Lebensauffassungen und -stile junger Menschen erkennen.

Link: www.nummergegenkummer.de

Die Namen der Interviewpartner wurden geändert


Das Kinder- und Jugendtelefon hat in Deutschland 90 Standorte. 2010 wurden fast 215.000 Gespräche geführt (ohne Test- und Scherzanrufe, Aufleger und Schweiger).
Diese ehrenamtliche Arbeit leisten mehr als 3.900 Bürger an ein bis zwei Terminen pro Monat à vier Stunden. Sie absolvieren vorher eine Ausbildung, bei der auch Themen wie juristische Fragen, Partnerschaft oder Suizid behandelt werden.
Die »Nummer gegen Kummer« sucht dringend Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren sowie Frauen und Männer zwischen 20 und 70 Jahren. Wer verantwortungsbewusst, tolerant gegenüber anderen Auffassungen ist und psychisch belastbar, kann sich bewerben.
Träger des Angebots sind die Diakonischen Werke und der Kinder­schutzbund. Finanziert wird es zu einem großen Teil von der Telekom. Seit 2008 gilt zusätzlich die EU-weite Rufnummer 116 111.