Die Waldorfschulen befinden sich in einer Phase der Entwicklung, in der alles auf die Ideen und die Tatkraft ankommt, mit der sie die Herausforderungen der Gegenwart und überschaubaren Zukunft anpacken. 2019 ist mitnichten ein »Jubeljahr«, als was es mein Kolumnen-Kollege Henning Köhler in der März-Ausgabe dieser Zeitschrift bezeichnete. Sehr viel treffender scheint mir eine Formulierung Rudolf Steiners zu sein: »Das Künftige ruhe auf Vergangenem. – Vergangenes ertrage Künftiges!« Recht hat Köhler allerdings mit seiner Mahnung, sich auf das Nachkriegsjahr 1919 zu besinnen, in dem die Frage nach der Zukunft alles andere als eine intellektuelle Spielerei war.
In diesem Jahr werden in vielen Veranstaltungen zwei anthroposophisch inspirierte Strömungen zusammengeführt: Steiners jahrzehntelange anthropologisch-anthroposophische Forschungen auf der einen und die von ihm initiierte politische Kampagne für eine »Dreigliederung des sozialen Organismus« auf der anderen Seite. Während erstere die Entwicklung des Menschen in den komplexen Wechselbeziehungen seiner geistigen, seelischen und körperlichen Wirklichkeiten ins Auge fasste, ging es bei Letzterer um die Bedingungen einer freiheitlichen, demokratischen und gemeinwohlorientiert wirtschaftenden Zivilgesellschaft, für deren Verwirklichung Steiner ein von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen unabhängiges Geistes- und Kulturleben, ein auf dem Gleichheitsgrundsatz basierendes Rechtsleben und ein assoziativ organisiertes (nicht profitorientiertes) Unternehmertum forderte.
Heute sind wir Zeugen eines entfesselten globalen Finanzkapitalismus, in dem international agierende Konzerne ganze Volkswirtschaften unterwerfen, wir sehen den wachsenden Einfluss der Industrie und der Staaten auf das Bildungswesen und wir sehen eine weltweite Erosion der Menschenrechte. 1919 reagierte Steiner auf die sich abzeichnende Vereinnahmung der jungen Demokratie durch die politischen Parteien, indem er mit den Lehrerinnen und Lehrern der ersten Waldorfschule nachdrücklich an der Frage arbeitete, wie sie die jungen Menschen zu einem freien Denken anhalten, zu sozialer Wahrnehmung befähigen und zu so vielen Begegnungen mit der Welt und ihrem eigenen Rätsel führen könnten, dass sie sich als Mitgestalter der Welt erkennen.
Nicht um Utopien geht es, sondern um den Mut, für ein Bildungswesen zu kämpfen, das unsere Kinder als denkende, handelnde und fühlende Wesen ernst nimmt, statt sie zu Objekten von politischen oder ökonomischen Bildungsprogrammen zu machen. Waldorf 100 könnte auch heißen: Die Prognose sind wir.