Die Reiselust. Die bleibt, auch wenn die Kinder kommen.

Anne-Silja Schmidt-Winkler

Unser Sohn Noah Willi ist vier, wir nehmen uns eine Auszeit. Statt Arbeit und Kindergarten rufen die große weite Welt und das Leben im Reisemobil.

Aus Indien kehren wir zwei Jahre später zurück. Zu viert, unser zweiter Sohn Finn Goan ist unterwegs geboren. Wir erkundeten Europa und Asien, verbrachten längere Zeit in Rumänien und Griechenland, der Mongolei und Südindien.

Der Beginn der Reise ist eine Herausforderung: Die Aufregung vor dem Neuen, Abschied vom gewohnten Alltag und vertrauten Menschen, enges Zusammenleben im Reisemobil in der Fremde.

Wenn man aber los ist, gewöhnt man sich schnell. Vor allem nehmen wir wahr, wie Noah Willi im Hier und Jetzt lebt und somit jeden neuen Ort, jede neue Begegnung interessant findet.

An Ländergrenzen wird grundsätzlich verabschiedet und begrüßt: Laut ruft er »Tschüss Ukraine!«

»Hallo Russland!«, seinem Stimmenklang entnehmen wir Heiterkeit und Neugierde, das nächste fremde Land zu entdecken.

Unser Sohn integriert bewusst das Kommen und Vergehen auf einer Reise. Seine Augen strahlen vor Entdeckerfreude. Er formuliert auch, wenn er ganz in Ruhe mit aller Zeit vertieft spielen oder noch bleiben möchte. Er fühlt sich gut. Wir achten auf unser aller Wünsche. Mit der Zeit überkommt uns eine bisher unbekannte Leichtigkeit, wir lachen und singen viel mehr als früher. Und werden mutiger:

»Mama, du schaffst das, durch den Fluss zu fahren!«, redet Noah Willi mir in der Mongolei zu, als ich mulmig zumute am Lenkrad sitze und vor mir die Piste durch einen Fluss führt. Der geringe Zeitdruck von außen wirkt ebenfalls entspannend, wir dürfen unterwegs oft zeitlos leben, ja wir dürfen! – ein ganz neues Gefühl. Wir entwickeln unseren eigenen Reiserhythmus. Wir Eltern brauchen länger, um von der schnellen, hektischen Lebewelt loslassen zu können - unser Kind kann es sofort, er lebt es uns wunderbar vor. Wie man seine Zeit verbringt, wird dadurch für uns zu einem zentralen Thema. Die Bedürfnisse unseres Kindes fallen uns in der intensiven Zeit miteinander viel mehr auf als im Arbeitsalltag. Was braucht unser Kind?

Herzensmenschen und Herzensorte bleiben! Noah Willi wünscht sich zu seinem 5. Geburtstag mit seinen alten Freunden zu feiern. Warum nicht? Wir fahren von der Peleponnes bis an die Nordsee. Über die nächsten Jahre merken wir, seine guten Freundschaften bleiben auch bei örtlicher Trennung bestehen, unterwegs kommen immer neue dazu. Reise-Herzensorte sind für ihn ganz klar die Schlammvulkane in Rumänien und das wilde Wolgaufer. Orte, in denen er daheim verwurzelt war, bleiben natürlich im Herzen. Heimweh hat jedoch keiner von uns, sonst wären wir nicht zwei Jahre gereist. Aber zwischendrin gehörten manchmal Tage dazu, wo man Altvertrautes oder gewisse Menschen besonders vermisst. Zu seinem sechsten Geburtstag kommen Oma, Opa und Tante nach Indien. Seine neuen Freunde feiern mit ihm Piratengeburtstag unter Palmen am Strand, und suchen nach alten Schatzkarten einen legendären Goldschatz.

Lange Weile tut auch gut: Wochenlang bleiben wir in einem rumänischen Dorf, helfen einer Familie auf der Peleponnes bei der Olivenernte und in der Taverne, oder bleiben in Indien nach der Geburt monatelang in einer Wohnung eingemietet an einem Ort. Dort besucht Noah Willi eine englische, internationale Schule. Überall treffen wir Menschen mit anderem Aussehen, neuer Sprache, unbekanntem Ausdruck. Noah Willi geht unvoreingenommen auf sie zu. Ohne Bewertung und offen in seiner Art. Andersartigkeit wird einfach angenommen. Vorsichtig, mit klarem Gespür und einer gesunden Portion Grundvertrauen tastet er ins Unbekannte. Unser Kind stellt die Weichen für Kontakte. Auf seine eigene Art und Weise: »Möchtest du etwas aus meiner Schatzkiste?« fragt er den russischen Grenzpolizisten durch das Seitenfenster, ohne dass wir Eltern das mitkriegen. Der freundlich lächelnde Mann ist ganz angetan und findet die europäischen Münzen in der kleinen selbstgebastelten Schatzkiste sehr interessant, möchte sie aber alle Noah Willi lassen.

Egal welche Sprache - die Verständigung läuft über das Lächeln im Gesicht. Mensch ist Mensch, das lehrt uns unser Sohn.

Vorurteile und Ängste haben besonders wir Erwachsenen. Gerade wenn wir auch aus Kinderaugen betrachten, die davon noch nicht geprägt sind, öffnen wir uns und beginnen, anders zu denken und zu sein. Die Erfahrung, dass Situationen und Menschen unterwegs gut sind beruhigt das »was wäre wenn«-Denken. Gewohnte Standards und Versorgung zu verlassen bedeutet für uns nicht, mehr Risiko einzugehen. Wir sehen das Risiko mehr im Schicksal verhaftet. Unterwegs heißt es für uns, mehr Selbstvertrauen zu entwickeln und Selbstverantwortung zu übernehmen.

Spielzeug »en masse« geht auf Reisen nicht. Das Motto heißt in allen Bereichen: Reduktion. Sich damit zu begnügen, fordert Gewöhnung. Aber schließlich wird man erfinderisch. Noah Willi liebt das Spiel in der Natur, er lernt verschiedenste Landschaftstypen gut kennen und einschätzen, sich darin bewegen, erfindet und bastelt sehr kreativ mit dem, was er gerade findet.

Kinder schärfen den Blick für die Natur und direkte Begegnungen mit anderen Kulturen – das ist ein unendliches Museum aus Kindersicht.

Das direkte Lernen von der Welt - »Live-Lernen« nennen wir das - geht voll automatisch: Geographie, Kulturen, Völker, Kyrillische Buchstaben, englische Sprache, tausender Zahlen auf mongolischen Geldscheinen lesen, …, die bisher selbstverständliche und unbewusste Ressourcennutzung rücken anders ins Bild. Uns beschäftigt saubere Wasserversorgung, Stromversorgung, Nahrungsmitteleinkauf in Sibirien oder mitten in der Mongolei, vor allem aber die Müllentsorgung in der Steppe und das dramatische Bild in Indien. - Das alles wird für Noah Willi durch die direkte Erfahrung verständlich.

»Aha, so gelassen und entspannt geht es auch durch den Alltag!«, stellen wir in Asien des Öfteren fest. Die Menschen wirken ruhiger auf uns, sie lächeln viel mehr als bei uns in der Heimat. Sie begegnen uns stets interessiert und hilfsbereit. Diese Offenheit, das Aufeinander zugehen färben ab – auf unser Kind und uns. Auf Noah Willi wirken Menschlichkeit, Aktion, positive Ausstrahlung, Lachen, und wir Eltern spüren uns auch zunehmend auf die nonverbale, gefühlte Kommunikation ein.

Inspiration finden wir beim Beobachten und Begegnen, wie andere Völker mit Kindern umgehen. Wir nehmen uns das, was bereichert, stupsen unser Wertedenken und den gewohnten Umgang mit Kindern neu an.

Die Dauerkombination »Kind & Natur ohne Waschmaschine« verändert uns! Wir werden locker. »Tut gut!«, merkt man erst beim Loslassen vom Putzfimmel und dem Ehrgeiz, blitzeblanke Wäsche haben zu wollen.

Enges Zusammenleben heißt auch, dass Noah Willi akute Fragestellungen und Problemlösungen mitbekommt. Er sieht, dass es einen Weg gibt. Im Laufe der Zeit beobachten wir in seinem Spiel eine Selbstverständlichkeit, Dinge anzugehen und Ideen auszutüfteln.

Ankunft und Einleben in der Heimat nach zwei Jahren anders leben ist wieder eine große Herausforderung. Wie zu Beginn.

Nun sehen wir vieles mit anderen Augen. So richtig verstehen uns nur die, die auch unterwegs waren.

Noah Willi bleibt die Offenheit, das zufriedene Spiel in der Natur, das Nichtbewerten. Vor allem lebt er als Kind im Hier und Jetzt und findet so seinen Weg im neuen Umfeld.

Zurück in Deutschland lassen wir uns auf einen neuen Ort ein. Gleichnah zu allen Verwandten, wenn sie auch nicht um die Ecke wohnen. Unser eigener Platz ist wichtig, ein Ruheort in heimatlicher Kultur. Zum Sacken lassen. Hineinspüren. Zum Sortieren und Reduzieren, materiell und innerlich. Zum Klar werden: Was fangen wir mit diesem Reiseerlebnis weiter an?

Was möchten wir unseren Kindern mitgeben fürs Leben? Was sind Erfahrungen und Werte, die ihnen helfen, in unserer globaler werdenden Welt die kommenden Aufgaben leichter anzugehen?

Wir fühlen uns reich beschenkt mit dieser Reise. Nicht nur für den Wissensaufbau und das Einschätzen der Vielfalt unseres Planten, gerade auch für die Ausprägung von Werten, achtvollem Verhalten, Ideenreichtum, Gespür und Vertrauen. Dafür sind wir dankbar.

Beides wird immer Teil von uns sein. Das Bleiben und das Losziehen.

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