»Hören lernt man nur durch Hören«, so die Audiopädin Reinhild Brass. Manch einer wundert sich jetzt sicherlich – Hören muss man doch nicht wirklich lernen? Ist doch das Ohr das erste Sinnesorgan, das im Mutterleib seine Tätigkeit aufnimmt. Außerdem lassen sich Ohren nicht einfach wie Augen verschließen. Man muss sie schon aktiv mit beiden Händen zuhalten, um einfach einmal nichts zu hören. Doch in einer Welt, wie wir sie heute erleben, voller Lärm, Geräusche und Sinnesreize, ist in der pädagogischen Arbeit ein neuer und bewusster Zugang zum eigenen Hören wichtig geworden. Denn es stellt sich die Frage, was die vielen äußerlichen, oft künstlichen Hör-Eindrücke mit den Kindern machen: Verkehrslärm, Computertöne, Kaufhausmusik und viele weitere unbewusst wahrgenommene Lärmquellen umgeben uns. – Wann ist denn endlich einmal Stille? Denn auch die Stille kann ein tiefgreifendes Erfahrungsfeld sein.
Glücklicherweise kann man im Rahmen einer Pädagogik des Hörens viele Wege finden, Kinder wahrzunehmen und zu erreichen. Dabei lassen sich zahlreiche Fähigkeiten fördern. Momente der Stille werden zur Erholung. Die verschiedenen Klänge und die Stille begegnen dem geistig-seelischen Wesen des Kindes und führen zu einem tiefgreifenden inneren Erlebnis. Wenn ein Kind im Rahmen der Audiopädie mit der Zeit selbst das Hören als Einhören erlebt und erlernt, kann es sich auch dem Fluss der Klänge und der Musik in besonderem Maße hingeben. Es wird dann regelrecht von ihnen genährt.
Kern der Audiopädie ist das Lauschen
Aus ersten Klangerlebnissen in Bewegung, mit Bronzestäben, Hölzern und Klangkugeln, können im Lauf der Schulzeit »Klangstationen« werden, die den Weg zu einem Hör-Raum ebnen. Reinhild Brass entwickelte ihr Konzept des »HörRaums« aus der Erfahrung, dass allein der natürliche Klang bestimmter Instrumente, im Wechsel mit Phasen der Stille nacheinander gespielt, bereits nach kurzer Zeit zu einer Entspannung bei erschöpften Menschen führt. Auch im Schulalltag zeigt sich: Bis Kinder morgens in der Klasse ankommen, haben sie schon viel gehört und gesehen. Eine gewisse Reizüberflutung führt zum ersten Abschalten, noch bevor die Schule beginnt. Gönnt man den Kindern nun ein Ankommen mit entspannenden Klängen, erholen sie sich rasch und werden aufgeschlossener für alles Neue. Tiefes Hören der naturgegebenen Klänge zuzulassen und in sich wirken zu lassen, ist der Kern der Audiopädie. Meine dritte Klasse hatte seit ihrer Einschulung viele besondere Hörerlebnisse. In der Epoche zur Schöpfungsgeschichte schuf sie zum ersten Mal selbst aktiv einen Hör-Raum – und dies, nachdem sie aufgrund der Corona-Krise fünf lange Monate nicht als ganze Klasse zusammen war und mit einigen Auflagen umzugehen hatte.
Die Schöpfung aus den Klängen
Am ersten Unterrichtstag der Epoche sprachen wir gemeinsam darüber, was alles durch den Menschen auf diese Welt gekommen ist. Die Kinder stellten sich dann eine Welt vor ohne die Dinge, die von Menschenhand entstanden sind. Es entwickelte sich ein lebhaftes Unterrichtsgespräch darüber, wie es dann heute auf der Erde aussehen würde. Es fiel den Kindern gar nicht schwer, sich eine Natur ohne Bauwerke, Maschinen und andere Dinge vorzustellen. Sie sahen die unberührte Natur gleich deutlich vor sich. Fast wie von selbst kam die Frage auf, wer denn diese unberührte Welt eigentlich gemacht haben konnte. In einer Erzählung lauschten die Kinder, wie die Welt noch wüst und leer, von Finsternis erfüllt war. Das Wort und die Engel trug Gott aber bereits in seinem Herzen und in seinem Geist.
Mit diesem inneren Bild ging es am zweiten Unterrichtstag an die künstlerische Arbeit. Die in den ersten Schuljahren gesammelten Klangerfahrungen halfen uns dabei. Die Finsternis sollte durch den Klang eines Gongs entstehen. Nein, Eisen hielt die Klasse für nicht passend. Man war sich schnell einig, der Kupfergong sollte es sein und viele Kinder meldeten sich, um ihn einmal spielen zu dürfen. Schon dabei fiel auf, dass das Spiel des Gongs auf Anhieb wohlklingend gelang. Obwohl der Umgang mit dem Instrument nicht durch bestimmte Vorgaben eingeschränkt war, spielte kein einziges Kind unangemessen laut oder lang.
Im Weiteren wurde das Tätigwerden der Engel Gottes durch das Spiel von Koshi-Klangspielen begleitet, was die Klasse gleich sehr zufrieden stimmte. Koshi-Klangspiele mit ihrem sphärischen Klang aus gestimmten Bronzestäben, die in einem Bambuskorpus von schwingenden Glaskugeln berührt werden, sind in der Klasse ohnehin äußerst beliebt und ein Garant für entspannte Stimmung. So war an diesem Unterrichtstag ein guter Grundstein für die weitere gemeinsame Arbeit gelegt. Es wurde anschließend vom ersten Schöpfungstag erzählt, als Gott erstmals aussprach »Es werde Licht«.
Am folgenden Tag wiederholten die Kinder den Beginn der Schöpfung mit den verschiedenen Klängen. Es kamen die Herz-Klangschale, dazu die vier verschiedenen Koshi-Klangspiele und wieder der Kupfergong zum Einsatz. Es war still, man hörte sich gemeinsam ein. Zuerst erklang die Herz-Klangschale, nach einem kurzen Moment der Stille spielten vier Kinder die Koshi-Klangspiele und zuletzt ertönte der Gong. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der gemeinsamen Arbeit hörte man auf einander, es gelang ein echtes Zusammenspiel. Dies entwickelte sich völlig intuitiv und sehr harmonisch. Manchmal wollten einige Kinder noch gern in die Klasse hineinflüstern oder von sich aus ein Zeichen geben, was wann gespielt werden solle. So gab es dann die »Spielregel«, dass jeder, der ein Instrument spielt, selbst lauschen und entscheiden darf, wann er an der Reihe ist – auch wenn man es selbst etwas anders empfindet. Die Instrumente wurden an diesem Tag noch zweimal gewechselt und das erste Erlebnis des Einhörens, der Wechsel zwischen Stille und Klang, sorgte erkennbar für eine ruhige und ausgeglichene Stimmung in der Klasse. Der Grundstein für einen kleinen Hör-Raum war gelegt.
So wie in der täglichen Erzählung die Schöpfung immer reicher wurde, entwickelte sich auch eine Klangvielfalt. Die Schöpfungsgeschichte klang jeden Tag ein bisschen anders – und doch war stets zu hören, wie die Schöpfungsmächte die zunächst finstere Welt mehr und mehr belebten. Bereits nach wenigen Unterrichtstagen war zu beobachten, dass die Kinder ein feines Empfinden dafür entwickelten, welches Instrument wann besonders passend erklingen konnte. Im weiteren Verlauf der Epoche kamen unter anderem eine kleine Primleier (Licht), das pentatonische Carillon (Regenbogen), eine Schale mit kleinen Steinen (Land), ein Muschelklangspiel (Luft), eine große Beckenschale voll Wasser (Wasser), ein Klangspiel aus Nüssen (Tiere) und viele weitere besondere Klänge zum Einsatz, ausgewählt von den Kindern.
Während anfänglich die meisten Kinder noch offen für alle Klänge waren und die verschiedenen Instrumente gern einmal selbst spielen und ausprobieren wollten, fanden sie in der zweiten Unterrichtswoche mehr und mehr »ihren« Klang, der ihnen selbst besonders gut tat und den sie dann auch spielen wollten.
Wir hatten insgesamt mehr Instrumente als Kinder in der Klasse. Doch an manchen Tagen meldeten sich einige Kinder auch gar nicht, um einen Klang zu spielen. Sie wollten lieber nur lauschen – es gab manchmal Zuhörer und manchmal nicht – Tage ohne Klänge kamen hingegen nicht vor. Alles war erlaubt. Es musste somit auch nicht jedes Instrument an jedem Tag gespielt werden. So, wie die Kinder sich die Klänge wünschten, stellte sich die Weltschöpfung am jeweiligen Tag klanglich dar. Und es war stets stimmig. Nachdem wir die sechs Schöpfungstage gemeinsam zum Erklingen gebracht hatten, wiederholten wir dies an den folgenden Tagen. Inhaltlich erfuhren wir, dass Gott mit den Tieren der Erschaffung des Menschen schon sehr nah war und alles, was er bis dahin erschaffen hatte, sich im Menschen wiederfand. Die Sonne im Herzen, das Wasser im Blut, die Luft im Atem.
Jetzt war es an der Zeit, den »Menschen« in seiner Vielfalt erklingen zu lassen. Seine »Erschaffung« war bereits im Kleinen ein erster eigener Hör-Raum, der nicht mehr angeleitet wurde. Während anfangs nur sehr zaghaft einzelne Instrumente erklungen waren, kam es zunehmend auch zu einem Zusammenspiel, das aber durchgehend angenehm zu hören war. Dass die Kinder überhaupt Klänge passend miteinander kombinierten, überraschte und faszinierte gleichermaßen. Die Fische im Wasser waren ein Zusammenspiel aus einer kleinen Klangschale und der Wasserschale. Die Vögel in der Luft hingegen waren ein Zusammenspiel aus einer ebenfalls recht kleinen Klangschale und einem »luftigen« Muschelspiel. So kann es nicht verwundern, dass die Kinder den Menschen auch klanglich aus allem zusammengewebt darstellten.
Nicht nur die Kinder haben viel gelernt
Beim audiopädischen Umgang mit der Schöpfungsgeschichte war spürbar, dass die Klasse als Gemeinschaft mehr zusammengewachsen ist und ihre kommunikativen Fähigkeiten stärken konnte. Beim Wechsel und Verweben von Klängen zeigten sich die Kinder nicht nur zunehmend flexibel und für Veränderung bereit, sondern auch begeisterungsfähig und kreativ. Das hohe Ziel, sich dem Fluss der Klänge und Stille hinzugeben und daraus zu zehren, wurde vielfach erreicht.
Aus pädagogischer Sicht gab es viel zu beobachten und zu erkennen: Wie zeigt sich ein Kind im gemeinsamen Spiel? Kann es sich einhören? Kommt es in den Fluss der Klänge? Lässt es sich auf das Geschehen ein und bleibt dabei? Wie gelingt die Handhabung der verschiedenen Instrumente? Welche Klänge werden ihnen entlockt? All das führte zu einem tieferen Verständnis des Wesens des einzelnen Kindes und seiner individuellen Art zu lernen.
Zur Autorin: Nadine Mescher ist Klassenlehrerin und Audiopädin an der Freien Waldorfschule in Hamm, Master of Arts in Sozialwissenschaften, Gesundheitspädagogin und Bloggerin (Montagskindblog – Waldorflehrerin.Art.Blog).
Literatur: S. Ronner: Warum Musikunterricht?, Stuttgart 2000 | R. Brass: Dem Hören vertrauen, Weilheim 2018 | R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde, Vortrag vom 26.8.1919, Stuttgart 1992