Flexibilität
Die Begründung ist einfach. Schauen wir unsere Zeit an. Die Menschen sind verunsichert, sie fühlen sich von der Globalisierung bedroht. Es fehlt ihnen der sichere Halt. Die Welt und die Lebensbedingungen wandeln sich immer schneller. Was wir gestern für sicher hielten, wird morgen durch etwas anderes ersetzt. Aber wir wissen noch nicht, was das sein wird. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Die Techniken, die wir heute lernen, sind morgen nicht mehr zu gebrauchen und das wird sich in den nächsten Jahrzehnten auch nicht ändern. Flexibel sein, das ist die Aufgabe. Und wie machen wir das? Flexibel heißt ja nicht, sich nach dem Wind drehen. Wirkliche Flexibilität braucht Halt und Orientierung. Wenn aber die Welt um uns her weder Halt noch Orientierung bietet, können wir diese nur im eigenen Ich finden.
Wie fördern wir das Ichbewusstsein des jungen Menschen, dass es kräftig und widerstandsfähig wird und in sich selbst Orientierung und Halt findet? Grundsätzlich gilt: Wir können das Ich eines anderen nicht erziehen, das kann nur jeder selbst tun, auch Kinder und Jugendliche. Aber wir können und müssen dafür sorgen, dass es die richtigen Bedingungen findet, um sich entwickeln zu können. Die zwei wichtigsten Bedingungen sind: erstens Wahrnehmung anderer Menschen und zweitens eigene Äußerung und Gestaltung. Was ist damit gemeint? Bei uns Menschen ist nur Weniges genetisch veranlagt. Die meisten Fähigkeiten müssen wir uns selbst beibringen. Wie geht das? Um unsere Bewegungsfähigkeit und den aufrechten Gang zu entwickeln, müssen wir Menschen wahrnehmen, die sich bewegen und aufrecht gehen. Um sprechen zu lernen, sind in unserer Umgebung Menschen nötig, die sprechen. Um unsere Gefühle und unser Denken zu entwickeln, muss es Menschen geben, die ihre Gefühle ausdrücken und ihre Gedanken mitteilen. Das gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche. Wer Philosophie studieren will, muss Bücher von Philosophen lesen und durchdenken oder Vorlesungen hören, um daran sein Denken zu entwickeln.
Das gilt auch für den, der naturwissenschaftliches Forschen lernen will. Und wenn wir Erwachsenen unsere Empfindungen und Gefühle beleben und entwickeln wollen, greifen wir zu einem guten Buch, lesen Gedichte, hören Musik, gehen in eine Kunstausstellung oder schauen einen guten Film an. Wir erleben dann, wie die Künstler ihre Gefühle zum Ausdruck bringen und bekommen dadurch Nahrung für unsere eigene Entwicklung. Damit ist schon angedeutet, was in der Schule, unter Berücksichtigung des jeweiligen Alters, für die Ich-Bildung der Kinder und Jugendlichen zu geschehen hat. Dass der Gefühlsbereich bei Kindern und Jugendlichen entwickelt werden muss, wird leicht vergessen. Wird er nicht entwickelt, dann treten die von Natur aus gegebenen undifferenzierten Basisemotionen wie Trauer, Zorn, Überraschung, Ekel, Angst und Freude an die Stelle und bestimmen Erleben und Handeln. Die zunehmende Verrohung menschlicher Beziehungen und die Zunahme von Gewalt, von denen fast täglich berichtet wird, dürften damit im Zusammenhang stehen.
Sinnbildung
All das ist möglich, weil wir Sinne haben, mit denen wir die Äußerungen anderer Menschen wahrnehmen können. Diese Sinne stehen zwar von Anfang an zur Verfügung. Wollen wir aber mit ihnen wahrnehmen, müssen wir sie erst ausbilden. Dafür bedarf es der entsprechenden Wahrnehmungen. Sind die Wahrnehmungen fein und qualitativ anspruchsvoll, dann entwickeln wir die Fähigkeit, Feinheiten und Qualitäten wahrzunehmen. Das Mädchen Genie, wie es von Lise Eliot beschrieben wird, die isoliert in einer dämmrigen Kammer aufwuchs, nichts zum Spielen hatte und kaum etwas wahrnahm, mit der niemand sprach, für die niemand da war, konnte ihre Persönlichkeit nicht entwickeln. Als sie mit zwölf Jahren in der Öffentlichkeit auftauchte, hatte sie den Entwicklungsstand eines einjährigen Kindes. Und dabei blieb es den Rest ihres Lebens. Warum? Ihre Sinne waren intakt.
Aber sie hatte weder Gelegenheit, ihre Sinne auszubilden, noch die Möglichkeit, durch andere Menschen angeregt, ihre veranlagten Fähigkeiten zu entwickeln.
Ausdrucksmöglichkeiten
Es dürfte klar sein, was sich aus dem Geschilderten als Aufgabe für Kindergarten und Schule ableiten lässt. Aber blicken wir zunächst auf die zweite Bedingung, die eigene Äußerung. Birger Sellin ist Autist und bringt kein Wort über die Lippen. Er kann sich auch nicht über Mimik oder Gebärden äußern. Niemand weiß, was in ihm vorgeht, auch die eigenen Eltern nicht. Als er neunzehn ist, lernt seine Mutter die sogenannte Computer gestützte Kommunikation kennen, eine Methode, mit der Autisten am PC schreiben können. Sie kommuniziert auf diese Weise mit ihrem Sohn und nun erfahren seine Eltern und andere Menschen zum ersten Mal etwas von dem Menschen Birger. Dazu gehört auch Folgendes: Er hat sich mit fünf Jahren das Lesen beigebracht und kennt alle Bücher im Haus. Dabei nimmt er jede Seite mit einem Blick auf und behält sie. Eine außerordentliche Fähigkeit, die mancher von uns sicher gern hätte. Ihm nützt sie gar nichts. Sie belastet ihn sogar, was er so ausdrückt: »Birger tut alles wissen mitten in den haufen von chaotischen gelesenen dichterunsinn und dichtet sich weiteren unsinn daraus so das quatschgebirge in potenz entsteht.« Warum kann er nichts damit anfangen? Weil er all das Aufgenommene nicht wieder los wird, weil er es nicht äußern kann, nicht in eine individuelle Gestalt bringen und dadurch verarbeiten kann. Wir kennen das. Wenn wir ein aufwühlendes Buch gelesen oder einen interessanten Film gesehen haben, oder wenn uns ein Problem beschäftigt, dann brauchen wir jemanden, dem wir davon erzählen können. Manche wählen einen anderen Weg und schreiben ins Tagebuch oder malen ein Bild. Um etwas, was wir erlebt und über die Sinne aufgenommen haben, zu verarbeiten und uns zu eigen zu machen, müssen wir es äußern.
Und zu den Formen des Äußerns gehören neben dem Sprechen und Schreiben alle künstlerischen Tätigkeiten. Die Kinder und Jugendlichen in der Schule brauchen sie alle für ihre Entwicklung. Sie erwerben dadurch über die Jahre ein Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten und stehen sicher an ihrem Platz in der Welt. Sie können dann nicht nur Texte schreiben, um einen Inhalt oder eine Erfahrung zu verarbeiten, sondern auch Bilder dazu malen, eine Ballade dichten, ein Schauspiel verfassen und aufführen oder sich ein Kreuzworträtsel ausdenken.
Vieles von dem ist in der Waldorfschule veranlagt. Aber man findet es vielfach in den Schulen nicht mehr, weil es unter dem Druck der staatlichen Vorgaben und der Erwartungen der Eltern als Erstes aufgegeben wird. Das Wissen und das Können, das die Jugendlichen für die Abschlüsse brauchen, sind dann wichtiger.
Im hier beschriebenen Konzept müssen wir auf sie nicht verzichten. Stellen wir die Förderung des Ichs ins Zentrum, brauchen wir für sie und manches andere nicht extra zu sorgen. Sie bilden sich von selbst. Und die Kinder und Jugendlichen verlieren auf diesem Weg die Neugier und den Lernwillen nicht, mit dem sie auf die Welt gekommen sind. Und die Lehrer und Lehrerinnen, was brauchen sie? Sie brauchen keine detaillierten Pläne, sondern Freiheit, um kreativ zu sein und den Kindern und Jugendlichen die beste Entwicklungsatmosphäre zu bieten. Und eine gute Ausbildung, die sie darauf vorbereitet.
Zum Autor: Dr. Wolfgang-M. Auer war 30 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum und federführend bei der Entwicklung des sogenannten Bochumer Modells. Heute ist er als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.
Literatur: L. Eliot: Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebens-
jahren, Berlin 2001; B. Sellin: ich will kein inmich mehr sein. Botschaften aus einem autistischen Kerker, Köln 1993