Hindert man ihn daran, wird er wütend. Zuweilen sehr wütend. Im Bericht des Klassenlehrers steht: »Ging es nach K., wäre die Schule nur ein großer Spielplatz. Allmählich muss er sich an Lerndisziplin gewöhnen.« Die Eltern klagen: »Der Unterrichtsstoff scheint an ihm vorbeizugehen. Er wehrt sich mit Händen und Füßen, Hausaufgaben zu machen.« Ansonsten kommen sie bestens mit K. aus. Allerdings bedrohen die Schulprobleme allmählich den Familienfrieden. Seitens der Lehrer wurde geraten, abklären zu lassen, ob vielleicht eine Therapie erforderlich ist.
Nun, möglich wäre das ja. Gegen Unruhezustände und Konzentrationsstörungen zum Beispiel kann man etwas machen. Ich erhebe, wie üblich, eine gründliche Anamnese, schaue mir Schulhefte an, lese Zeugnisse, telefoniere mit Lehrern, verbringe zwei – höchst erfreuliche – Kennenlernstunden mit K. und bin froh, den Eltern im Abschlussgespräch versichern zu dürfen, dass ihr Sohn ein rundum gesundes, gut entwickeltes, vielseitig begabtes Kind ist.
»Gottseidank«, sagt die Mutter. »Aber man muss doch etwas tun, um seine Leistungsbereitschaft zu stärken.« Ich kann mir nicht verkneifen, zu fragen: »Leistet er denn beim Spielen nichts?« Zuerst sind die Eltern verdutzt, dann betonen sie übereinstimmend, K. spiele sehr kreativ, ausdauernd und geduldig, er sei ein kleiner Erfinder, Entdecker, Baumeister, Künstler. »Nun ja«, sage ich, »dann brauchen wir eigentlich seine Leistungsbereitschaft nicht zu stärken.« Schweigen. »Also, was erhoffen Sie sich von mir? Ein paar Tricks, um dem Jungen die unbändige Spielfreude auszutreiben?« – »Nein, nein«, widerspricht der Vater, »aber mit zehn sollte er eine gewisse Arbeitsmoral zeigen.« Ich lege nochmal nach: »Heißt es nicht, das Spiel sei die Arbeit des Kindes?« Jetzt wird der Vater unwirsch: »Ja, sicher, in Sonntagsreden …«
Sein Ärger ist verständlich. Sätze wie »Lasst den Kindern Zeit!« oder »Lasst Kinder nach Herzenslust spielen!« sind schnell dahergesagt. Kämpft aber ein Schulkind um sein Recht, genau das zu tun, stehen alle Kopf. Auch in Waldorfkreisen greift diese Schizophrenie um sich. Einerseits herrscht große Aufregung, weil heutzutage viele Kinder gar nicht mehr spielen können. Andererseits wird ein wunderbar verspielter Zehnjähriger, der davon ausgeht, Schulen seien das, was sie eigentlich sein sollten, nämlich große Spielplätze, zum Therapeuten geschickt.
Immer häufiger begegnen mir Kinder, die wild entschlossen sind, bis weit ins zweite Lebensjahrsiebt hinein ganz beim Spielen zu bleiben. Ich soll als Therapeut etwas dagegen unternehmen, aber warum? Tun diese Kinder nicht eigentlich mitten im Falschen das Richtige? Ihr Verhalten gebietet Respekt. Wir müssen pädagogische Antworten darauf finden. Der stumpfsinnige Ruf nach Disziplin und Pflichtbewusstsein ist keine pädagogische Antwort.
Zu referieren, was ich K.s Eltern und Lehrern riet, würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel: Hat man erst einmal die richtige Einstellung zu einem Problem gewonnen, zeigen sich auch konstruktive Lösungswege.