Aber nicht nur die Würde gerät ins digitale Kreuzfeuer, wie Schmitt in seiner »Medienkritik im 21. Jahrhundert« aufzeigt. Kenntnisreich schildert der Philosoph, wie unsere Individualität und Freiheit auf dem Spiel stehen. Seine These: Das Internet ist ein »großes, wahnwitziges Projekt der audiovisuellen Gleichschaltung«. Eine »streng algorithmisierte Monokultur« sei dominant. »Jeder verwendet das identische Programm auf identische Art und Weise«, so Schmitt. »Der Mensch verliert hier an Individualität, ohne dass er es merkt.«
Stichwort Freiheit: Schmitt rekurriert auf den französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984), der den Begriff »Panoptismus« so beschrieben hat: »Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; […] er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.« Dabei orientiert sich der französische Philosoph an der Idee von Jeremy Bentham (1748-1832), Gefängnisse so zu bauen, dass Häftlinge mit einer allgegenwärtigen Überwachung rechnen müssen. Eine disziplinierende Architektur, wie sie auch das Internet bietet: Ob Digital-Konzerne oder Geheimdienste – »wir leben im fortwährenden Bewusstsein der beständigen (potentiellen) Überwachung«, schreibt Schmitt.
Würde, Individualität und Freiheit – das sind nur drei wesentliche Begriffe in Schmitts Medienkritik, die sich gründlich mit vielen Phänomenen der Digitalität auseinandersetzt. Da geht es u. a. um Fragen zu Technik, Wissen und Bildung sowie Medien und Gesellschaft. Eine breit angelegte und philosophisch fundierte Kritik, die tief in die Abgründe der digitalisierten Welt blicken lässt. Eine wertvolle Lektüre für alle, die sich auch auf einen philosophischen Sprachstil einlassen wollen.
Das Buch kann aber den Leser etwas hilflos zurücklassen, weil die beschriebenen Prozesse so mächtig erscheinen: Eine panoptische Gesellschaft nimmt Gestalt an (oder existiert bereits), um das Individuum seiner Einzigartigkeit, Würde und Freiheit zu berauben. Aus einem rein ökonomischen Kalkül der Profitmaximierung, wie sie global bei den digitalen Monopolisten Amazon und Co. im Vordergrund steht. Eine hoffnungslose Entwicklung?
Die Angriffe auf die Menschlichkeit, wie sie Schmitt beschreibt, lassen sich auch so deuten: »Digital Distancing« ist gefragt, um den digitalen Imperativ der Ökonomie zurückzudrängen. Das ist die zentrale Bewusstseinsaufgabe im 21. Jahrhundert! Eine realweltliche Kompensation durch Kunst und Natur ist nötig, für Kinder und Erwachsene. Bildschirme haben in Kindergärten und Grundschulen nichts verloren. Wer zudem die Reise in den Reichtum innerer Welten antritt, kann sich besser schützen – vor dem Gewitter aus gewaltvollen Reizen, das sonst auf ihn niedergeht. Die Tiefen der eigenen Seele werden attraktiver als das oberflächliche Geplänkel, das die Scheinbefriedigung virtueller Substitute bietet. Der Ausschaltknopf an Rechner oder Handy wird zur wirkungsvollen Waffe. So muss Schmitts dystopische Analyse nicht (noch mehr) Wirklichkeit werden.
Peter Schmitt, Postdigital. Medienkritik im 21. Jahrhundert, 2021. 175 Seiten, EUR 16,90, Meiner Verlag Hamburg.
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