Noël: Ich würde mit euch gerne über meine Empfindung sprechen, dass sich die Gesellschaft auf eine Vereinzelung des Individuums zubewegt, die ich als »Singularität« bezeichnen möchte. Den Begriff leihe ich mir aus dem Utopie-Vokabular diverser Initiativen (z.B. Initiative2045), die sich das Ziel gesetzt haben, den Menschen mit der Maschine zu verschmelzen und somit eine Art Gotteszustand zu erreichen. Im Gegensatz zu ihnen werte ich den angestrebten Zustand jedoch eher als etwas Negatives. Die Singularität ist eine Weiterentwicklung der »Digitalität«; daher meine erste Frage: Wie ginge es uns heute, wenn das Internet nicht erfunden worden wäre? Besteht die Möglichkeit, dass es sich bei dem Internet-Boom um einen Trend handelt und die Kinder in zwanzig Jahren ablehnen, was ihre Eltern »gefeiert« haben, wie das bei Trends und Mode nun Mal so üblich ist?
Linus: Man muss sich fragen, warum das Internet eine solche Anziehungskraft hat, wo die reale Welt doch wie das beste Computerspiel ist? Der Reiz geht, aus meiner Sicht, vor allem von den folgenden Aspekten aus: Der Möglichkeit, dass man mit wenigen Klicks Flugzeuge fliegen, einen Berg erklimmen oder eine Stadt bauen kann. Dinge, die man in der realen Welt nicht in einer Minute, zum Teil auch überhaupt nicht erreichen kann. Um es auf das ganze Internet und nicht nur Videospiele auszubreiten, kann man hier natürlich schnell viele beeindruckende Dinge lesen, sehen oder hören (Stichwort Vielfalt) und auch viele spezifische Antworten finden, und das in Sekunden. In der realen Welt würde es länger dauern, das alles zu erfahren.
Emelie: Doch was ist nun die Problematik mit dem Internet, konkreter den sozialen Netzwerken? Sie bieten ja scheinbar einen endlosen Raum an Möglichkeiten. Doch während man Fremden dabei zusehen kann, wie sie ihre Online-Bestellungen auspacken und dir zeigen, dass ihr Leben mindestens so toll ist, wie ihr brandneues 5-Euro-Shirt, ist man immer nur einen Klick vom Unglück entfernt. Das Internet ist tückisch. Ob etwas echt ist oder »fake«, wird nicht deutlich, und so kommt es, dass sich unser Leben mit dem Internet mischt. Plötzlich wollen wir Dinge, die »alle immer auf TikTok haben« und teilen Ansichten, die »mein Nachbar auf Telegram gelesen hat«.
Noël: Ja, das ist ein Aspekt. Wichtig finde ich aber auch die daraus entstehende »Mentalität«. Ich bin überzeugt davon, dass die Zukunft des Menschen in der Gemeinschaft liegt, angefangen bei Thich nath Hanh, der meint, dass der nächste Buddha in Form einer Gemeinschaft geboren werden wird, bis hin zu den vielen unabhängig voneinander entstehenden Lebensgemeinschaften weltweit. Genau das ist der Geist der Zeit und eine Antwort auf die – unter anderem durch das Internet hervorgerufene – innere Einsamkeit und gesellschaftlich notwendige Unabhängigkeit. Mir geht es vor allem um die zugrunde liegende Mentalität, die sich weltweit als eine Art »Distanz-Schaffer« zwischen den Menschen, aber eigentlich auch zwischen dem Menschen und seiner Umwelt etabliert. Mir ist bewusst, wie paradox es auf den ersten Blick scheint, gerade die Vernetzung als Erzeuger von Distanz zu bezeichnen, vielleicht lohnt sich aber doch ein genauerer Blick darauf.
Emelie: Vielleicht ist das Simulieren eines Menschen, der wir nicht sind, auch einfacher, als das wahrhaftige Sein. Online erscheint es uns oftmals müheloser, Dinge zu sagen, zu tun oder zu verbreiten, die wir uns im »echten« Leben nicht trauen würden. Vielleicht ist unser innerer, moralischer Wertekompass einfach schwächer, wenn wir online sind, denn wir sehen keine direkte Reaktion auf unsere Worte bzw. Kommentare, und ein Dislike trifft uns nicht so sehr, wie ein echter Blick. Die Hemmschwelle ist gesunken, das Gefühl für ein gutes Maß an fundierter Kritik verloren. Gleichlaufend zu einem netten Wort in Person, werden online Hasskommentare verfasst, geteilt und geliked. Überhaupt wird Kritik oft mit reiner Abwertung verwechselt oder fälschlicherweise gleichgesetzt, was viele Kommentarspalten zu reinen Kampfplätzen macht.
Dass solche Auseinandersetzungen, der Austausch angestauter Wut und Unzufriedenheit, »nur« im Internet stattfinden, ist längst nicht mehr korrekt, denn das Empfangen und Lesen eines solchen Kommentars trifft dann doch ins Herz. So erreichen hinter ihre Bildschirme gefesselte Menschen, dass es anderen schlecht geht, und merken es nicht einmal.
Trotz all der negativen Aspekte, die für mein Gefühl auch gegenüber den guten an Stärke überwiegen, spielt das Internet eine große Rolle. Wieso? Matt Haig schreibt in seinem Buch »Notes on a nervous planet« (Notizen über einen nervösen Planeten) Folgendes: »Die mächtigsten Aspekte des Internets sind Spiegel der Offline-Welt.« Und weiter schreibt er: »Aber Nachbildungen der Außenwelt sind nicht die tatsächliche Außenwelt.« Ich denke, damit wird deutlich, dass das, was uns online hält, das ist, was wir »im echten Leben« wünschen, träumen oder denken, aber nicht laut sagen.
Minna: Wir haben das Internet also zum einen als Spiegel der realen Welt und gleichzeitig als Ursache der Vereinsamung erkannt. Dass »Vereinsamung« als etwas Negatives angesehen wird, setzt jedoch voraus, dass wir ohne den Kontakt zu Menschen unglücklich sind. Wir brauchen also die Gemeinschaft um unser eigenes Glück zu finden. Aber wie kann es sein, dass wir es im Internet nicht finden, wenn es doch das identische Spiegelbild der realen Welt ist? Was macht das wahre Leben aus, und was suchen wir vergeblich in seinem Spiegel? Um darauf eine Antwort geben zu können, muss man sich vielleicht zuerst bewusst machen, was Gemeinschaft und Zusammensein für uns eigentlich bedeutet. Gemeinschaft ist für mich ein Ort der Sicherheit, der Akzeptanz und der Bestätigung, aber auch des Austauschs und der Weiterentwicklung. Durch die große Anzahl der Nutzer:innen bietet das Internet einen breite Möglichkeit des Austauschs, gelegentlich auch der Bestätigung, meist jedoch nicht unbedingt der Sicherheit.
Austausch und Bestätigung könnte man als geistige Ebene betrachten. Somit können wir wichtige Bedürfnisse aus der geistigen Ebene auch im Internet erfüllen. Etwas, das eine Gemeinschaft definitiv auch ausmacht, ist die Kommunikation, also die »körperliche« Ebene. Auch hier kann das Internet die reale Welt auf immer bessere Weise ersetzen, z. B. durch Videoanrufe. Was ist es also, das die Zufriedenheit durch den direkten Kontakt mit Menschen ausmacht? Warum vereinsamen wir, obwohl so viele Facetten der Gemeinschaft durch das Internet erfüllbar sind? Da wir durch den Austausch schon das Geistige und durch die Kommunikation das Körperliche beschrieben haben, ist es vielleicht der seelische Anteil, der fehlt?
Noël: Ja, das ist ein interessanter Ansatz. Ich möchte aber daran erinnern, dass Kommunikation zwischen Lebewesen immer mehr als reiner Informationsaustausch ist. Kommunikation geschieht, wenn die von Minna genannten drei Ebenen gleichzeitig »beansprucht« werden, und zwar von gesendeten Signalen des Gegenübers. Kommunikation ist ganzheitlich, was mich persönlich direkt an die zunehmende Digitalisierung des Unterrichts denken lässt, die womöglich einer echten Kommunikation zunehmend im Wege steht.
Emelie: Vielleicht bietet das Internet uns aber auch die Chance, bewusster über unser »echtes« Leben zu werden, zu erkennen, dass man die Wellen des Ozeans besser hört, wenn man wirklich dort ist, anstatt anderen online dabei zuzusehen.
Wenn die guten Dinge im Internet, so wie Haig schreibt, wirklich Spiegel der »Offline-Welt« sind und dennoch das, was uns online hält, gibt mir das Hoffnung. Hoffnung, dass das Internet wirklich nur ein Trend ist, und uns am Ende die Dinge mehr schätzen lehrt, die sich in ihm spiegeln. Insofern wäre der von ihm angerichtete Schaden begrenzt.
Noël: Jedenfalls ist ein Leben ohne die digitale Parallelwelt für viele kaum noch vorstellbar. Gerade deswegen finde ich es wichtig, sich das einmal auszumalen. Die wichtigste Frage, das Kernstück unseres Dialogs, heißt aber: Wie wäre unsere Beziehung zu unserer Umgebung? Ein Bewusstsein entsteht am besten durch eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Gedanken. Unsere Umwelt spricht mit uns, und ich bin davon überzeugt, dass sich die großen Probleme und Zusammenhänge bei genauem Hinsehen auch im Kleinsten wiederspiegeln. Wenn wir es schaffen, uns nicht von dieser nachkolorierten Parallelwelt ablenken zu lassen und mit unserem Umfeld in Resonanz treten, ist das ein wichtiger Schritt zu einem bewussten Leben und einem tieferen Verständnis globaler Themen, da wir sie dann am eigenen Leib, auf allen drei Ebenen erfahren können und nicht allein durch die Informationen aus der Spiegelwelt.
Minna Frenzke geht momentan in die 11. Klasse der FWS Itzehoe und ist seit Mai 2021 im Vorstand der Waldorfschüler:innenvertretung.
Noël Norbron, besucht die 12. Klasse der FWS Göttingen und ist seit 2019 Mitglied im Vorstand der Waldorf SV.
Linus S. Reifferscheid, im Mai 2020 in den Vorstand gewählt, besucht die Kieler Waldorfschule in der 11. Klasse.
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