Es gibt wohl kaum ein Schulfach, in dem so widersprüchliche Aussprüche so eng aufeinanderfolgen, wie im Turnunterricht. »Das kann ich nicht!« seufzen, flüstern, stöhnen oder rufen die Schülerinnen. – »Das schaffst Du«, antwortet Johanna Altmann in mindestens ebenso vielen verschiedenen Tonlagen, wie es aus dem Mund ihrer Schüler kommt. Deshalb glauben sie ihr, aber auch deshalb, weil Johanna Altmann eine von ihnen ist. Egal welche Altersstufe sich in der Turnhalle trifft, immer scheint es, als wären sie ein Team, die Mannschaft mit dieser Lehrerin – nicht eine Mannschaft, in der es etwas zu gewinnen, jemanden zu bezwingen gilt, sondern zu schaffen. Es ist ein Ehrgeiz ohne Ehrgeiz und Johanna Altmann erklärt mir, dass das mit Jungen kaum möglich wäre, denn da begänne sehr schnell das gegenseitige Messen.
Die Turnhalle der Schopfheimer Waldorfschule ist riesig. Selbst in dem Hallendrittel, in das jetzt die ersten Mädchen eintrudeln, bleibt viel leerer Raum. »Ihr könnt mir mit den Matten noch helfen«, ruft sie der Gruppe zu und stellt selbst drei Turnbänke zu einem Dreieck zusammen. Wie um ein Lagerfeuer in der Turnhalle, so kommt es mir in den Sinn, als schließlich alle Mädchen eng auf den Bänken mit den Ellenbogen auf den Knien zusammensitzen – unter ihnen Johanna Altmann. Ein Check mit dem Klassenbuch: »Wer fehlt?«, dann ein kurzer Rückblick auf die letzte Woche und die Ansage, was jetzt auf dem Programm steht. Bei einer Symphonie gibt der Anfangsakkord die Richtung vor, intoniert das Stück. So ist es auch hier. Wie die Mädchen jetzt zusammenhocken und ihrer Lehrerin zuhören, was heute zu tun ist, die Gelassenheit des Miteinanders, das ist vermutlich eine der Bedingungen, um die Wettkampfatmosphäre draußen zu lassen.
Freies Aufwärmen und dann geht es in Richtung Radschlag. Dazu laufen die Mädchen auf den Rand einer Turnbank zu, greifen die beiden Ecken der Sitzfläche, um dann so abgestützt die Beine in einem Bogen ausgestreckt kreisen zu lassen, jedes Mal ein bisschen höher.
Was beim Zusehen zufällig erscheint, hat System: Bei manchen Mädchen gibt es eine kleine Korrektur, bei anderen schaut die Lehrerin nur aus dem Augenwinkel zu, lässt probieren, unbemerkt scheitern. Jede Korrektur ist abhängig vom Können, erklärt sie mir später. »Trau Dich noch mehr, über die Schulter zu kreisen!«, ermutigt sie, »Ja! Schön! Genau!« – und immer wieder die Versicherung: »Ich weiß, es ist schwer«. Und der Tipp: »Schaut auf eure Hände, dann habt ihr die richtige Haltung«.
Dann folgt das Herz ihres Unterrichts, sie macht die Übung vor, nicht um zu imponieren, sondern wieder, weil sie zur Mannschaft gehört. Es wird still, und es scheint, als würden alle Schülerinnen ihr die Daumen drücken, dass sie mit den Beinen möglichst hoch hinaus kommt.
Selbstvertrauen gewinnen
Albert Bandura, einer der führenden Psychologen des 20. Jahrhunderts, beantwortete in seiner Lerntheorie eine der Kernfragen jedes Lehrers: Was, so fragte er, hilft Schülern, Selbstvertrauen zu gewinnen? Für Selbstvertrauen wählte er den sperrigen, aber präziseren Begriff der »Selbstwirksamkeitserwartung«. Welche Erfahrungen zählen, damit diese Erwartung, mit dem eigenen Selbst wirksam sein zu können, sich erfüllen? Was macht diesen Kredit auf die Zukunft möglich? Es ist die Kernfrage im Geräteturnen, denn bei jedem Anlauf auf das Pferd, den Barren oder Schwebebalken liegen die inneren Stimmen im Streit: »Du wirst abrutschen, danebengreifen, stürzen«, buchstäblich »eine blöde Figur machen!« – und: »Du wirst den Schwung erleben und das wird dich glücklich machen und dich über dich hinauswachsen lassen«. Also: Was, so fragte Bandura, gibt der letzteren Stimme das letzte Wort? Vier Erfahrungen zählt der Psychologe auf, und drei davon habe ich bei Johanna Altmann immer wieder wahrgenommen.
Das erste sind positive Erfahrungen: Das große Ziel ist zwar der verrückte Flickflack, aber die Etappen dorthin sind in ein Dutzend kleiner Herausforderungen portioniert, so dass bei dieser Salamitaktik es für jede Schülerin Gelegenheiten gibt, zu erleben, dass sie etwas kann, an das sie zuvor nicht glaubte. Das stärkt den Glauben an das eigene Vermögen.
Banduras zweiter Punkt: Die Beobachtung wirksamer Menschen, denen man sich verbunden fühlt: Wenn der Überschlag der Lehrerin gelingt, dann kann er auch mir selbst gelingen, denn sie ist wie ich, ist mir verwandt. Weil diese unbewussten Gedanken durch die Jugendlichen ziehen, wundert es nicht, dass sie mit der Lehrerin hoffen, wenn sie Anlauf nimmt. Sie bezwingt die Aufgabe an deren Stelle, doch das ist nur möglich, wenn zuvor Gemeinsamkeit hergestellt ist.
Ich erinnere mich noch gut an den eigenen Sportunterricht. Das Gegenteil war der Fall: Der Sportlehrer demonstriert den Stabhochsprung und zeigt so seine Überlegenheit – der Graben von Schüler und Lehrer ist unüberbrückbar.
Banduras dritter Hinweis ist die Ermutigung durch andere: Dabei ist es nicht nur Johanna Altmann, die mit Lob und Ermutigungen nicht sparsam ist, es sind auch die anderen Schülerinnen, die sich gegenseitig Hilfestellungen geben müssen und dann bei einem erfolgreichen Überschlag »super« rufen.
Johanna Altmann hat wohl recht, wenn sie mir erklärt, dass der Handstandüberschlag beim Barren oder sogar beim Schwebebalken, mehr Überwindung verlangt, als der Sprung vom Zehnmeterbrett. Was so harmlos »Geräteturnen« heißt, ist die große Schule, sich selbst in Grenzsituationen einen entscheidenden Schritt weiterzubringen.
Ich habe beim Zusehen der einzelnen Klassen von ihr gelernt, dass Rudolf Steiners Ruf, aus Liebe zu unterrichten, im Turnunterricht bedeutet, an diesen Schwellen, wenn die Angst zu lähmen scheint, ein Netz aus Kameradschaft und Vertrauen zu knüpfen. Wenn dann mit einem Mal der Bewegungsablauf gelingt, der Körper herumwirbelt und am Ende im sicheren Stand unten und oben wieder am richtigen Platz sind, dann ist das eine Erfahrung, ein Pfund für die ganze Biografie. Es zieht eine Freude, eine Zufriedenheit übers Gesicht der Jugendlichen, die Johanna Altmann mit feinem Lächeln beantwortet.