Gesichtslos

Mathias Maurer

Da ging die Ladentüre auf und eine junge Verkäuferin mit Maske stürmte dem kleinen Kind mit offenen Armen entgegen. Das kleine Kind wendete sich verängstigt ab. Es erkannte seine Mutter erst, als sie die Maske abnahm. Dieses Bild hat sich mir eingeprägt, weil es deutlich macht, was menschliche Begegnung und Kommunikation ausmacht: Der Blick auf das freie Anlitz.

Was von einem Kind in elementarer Weise erlebt wird, schwächt sich mit zunehmenden Alter ab, denn der Kopf denkt mit. Erwachsene haben ihre Gründe, warum sie eine Maske tragen, die ein Kind allerdings nicht nachvollziehen kann. Es erfährt eine tiefgreifende Verunsicherung. Zum Wesen der Maske gehört, dass man als Individuum nicht erkannt werden kann, ja soll. Hinter der Maske verschwindet die Person, wird anonym. Das Unsichtbarwerden des menschlichen Ausdrucks reduziert die Wahrnehmung eines authentischen Gegenüber. Jeder Mensch, egal welchen Alters, erfährt mehr oder weniger bewusst die Veränderung, die dadurch eintritt, wenn er sich maskiert oder einem maskierten Menschen begegnet. Lehrer und Schüler, Eltern und ihre Kinder verändern als Maskenträger in subtiler Weise ihr Verhalten. Manche tragen ihre Maske wie eine Rüstung, andere als modisches Accessoire, andere ängstlich vermummt – als ob die Maske, wie im griechischen Theater, den Charakter einer Rolle verstärke, hinter der sich die Individualität des Schauspielers verbirgt. Die Rollenmaske diente von alters her der sozialen und kulturellen Integration, der sozialen Kontrolle und der Regulierung politischer Macht. Die gegenwärtig zu tragenden Masken – von den einen als Symbol der Unterwerfung abgelehnt, von anderen als wirksamer Schutz begrüßt – erscheinen aus pädagogischer Sicht bei Kindern völlig deplatziert.

Wobei wir beim Thema dieses Heftes wären. Gesundheitsminister Jens Spahn konnte als dama­liger Staatssekretär im Zusammenhang mit der Burka-Diskussion noch behaupten, eine Ver­schleierung sei »ein Statement an alle anderen um mich herum: Ich isoliere mich, grenze mich ab, entziehe mich den Blicken der anderen und verweigere mich damit einer der grundlegendsten Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ich verwehre meinem Gegenüber die Möglichkeit, sich im wahrsten Sinne ein Bild von mir zu machen« ... All das sei nur schwer vorstellbar und das Gegenteil einer offenen demokratischen Gesellschaft (FAZ, 18.8.2016). – Was er in Bezug auf die kulturelle Integration nicht für möglich hielt, ist heute für alle gesellschaftliche Normalität.

Der Corona-Virus hat uns durch seine weltweite Verbreitung einerseits als eine Menschheit ins
Bewusstsein gerückt und miteinander verbunden, andererseits mehr denn je voneinander, von Land zu Land, von Region zu Region, von Stadt zu Stadt, von Mensch zu Mensch getrennt.