Klassenzimmer

Ein Blick ins Bewegliche Klassenzimmer

Iris Taggert
Foto: © Charlotte Fischer

Diejenigen von uns, die selbst vom ersten Schultag an in einem konventionell eingerichteten und geführten Klassenzimmer unterrichtet wurden, können sich unter einem Unterricht unter diesen Bedingungen meist wenig vorstellen. Lassen Sie uns daher gemeinsam einen Blick ins Bewegliche Klassenzimmer werfen.

Es ist noch früh am Morgen: Die Außentüren der Schule werden geöffnet und einige Schüler der 1. und 2. Klasse laufen um die Wette auf ihre Klassenzimmer zu. Seit einigen Wochen erwartet sie dort in der Zeit vor Unterrichtsbeginn ein Parcours. Wenige Minuten später klettern, balancieren, krabbeln und hüpfen sie über, unter und durch Bänke, Kissen, Seile, Reifen, Stelzen und Decken. Trotz aller Bewegung herrscht hier Ordnung. Die Kinder kennen die Regeln, die Variablen und Konstanten. Der Parcours hat einen Anfang und ein Ende und wird von allen so begangen, dass Staus, Zusammenstöße und unnötige Unruhe vermieden werden. Die Anordnung verändert sich täglich und erscheint den Kindern so immer neu und herausfordernd.

Auf diese Weise bietet sich ihnen in der Zeit vor Unterrichtsbeginn auf kleinstem Raum bei größtem Vergnügen die Gelegenheit, sich zu bewegen und sich in der Bewegung zu begegnen wie vielleicht zu keiner anderen Zeit am Tag. Es findet ohne großen Aufwand eine Nachreifung der sogenannten Basalsinne statt, die, wie in den letzten Jahrzehnten vermehrt beobachtet werden konnte, bei vielen Kindern bei Schuleintritt noch nicht ausgereift sind. Beim erstem Schulglockenschlag verteilt der Klassenlehrer die Aufgaben zum Umbau vom Parcours zum Kreis. Wo die Kinder in den ersten Tagen noch seiner Hilfe und vorausschauenden Koordination bedurften, führen sie nach kurzer Zeit engagiert die nun bekannten Abläufe aus, sodass bereits nach ein, zwei turbulenten Minuten alles an seinem Platz ist und die Klasse sich zum Anfangskreis niederlassen kann.

Hier gibt es keine Sitzordnung. So lassen sich die Veränderungen der Sozialgestalt in der Klasse unmittelbar erkennen und miterleben. Nun wird geschaut, wer wohl über Nacht krank oder auch wieder gesund geworden ist. Erst dann sind alle, wenn auch manche nur in Gedanken, anwesend. Hat jemand auf dem Schulweg eine Kastanie gefunden? Wer möchte etwas vom gestrigen Nachmittag oder Abend berichten? Wer hat am Vortag oder am Wochenende etwas so Wichtiges erlebt, dass alle davon wissen sollten?

Während die Erstklässler nur vereinzelt und dann oft recht einsilbig auf die Lehrerfrage antworten, gewinnen die Schüler in den kommenden Monaten und Jahren durch dieses umsichtig von den Lehrern geführte, tägliche Kreisgespräch zusehends an Offenheit und Eloquenz. Sie erleben das ehrliche Interesse ihres Klassenlehrers und ihrer Mitschüler an ihrer Person. Nicht selten ist man tief berührt von dem, was in dieser, mit der Zeit, sehr vertrauensvollen und inhaltlich tiefen Runde neben Alltäglichem berichtet wird. Es wird geübt, sich gegenseitig zuzuhören. Taktvoll korrigiert der Lehrer Aussprache und Wortwahl der Kinder. Was auf diese Weise am Tagesanfang aus Kindesmund – und manchmal auch vom Lehrer – erfahren wird, schafft Vertrauen und lässt wirklich teilhaben am Wohl und Wehe der einzelnen und stimmt gleichzeitig alle ein auf die jeweilige Verfassung der anderen. Es wirkt sich aus auf den Umgang miteinander, auf die Erwartungen, die man aneinanderstellen kann oder nicht. Der Unterricht kann beginnen!

Mit dem Morgenspruch wird nun der »Sonne liebes Licht« begrüßt. Die in den ersten Schuljahren noch durch beseelte Gebärden begleiteten Lieder und Sprüche lassen sich im Kreis ohne trennendes Mobiliar besonders gut üben. Während die Schulkinder hinter Tischen und Stühlen mindestens zur Hälfte verschwinden, können sich im Kreis alle in ihrer ganzen Gestalt wahrnehmen. Übungen zur Seitigkeit und zur Körpergeographie können so immer wieder mit allen Kindern ausgeführt werden. Sie werden rasch wach dafür und geschickt darin. In diesen bewegten Anfangsminuten ertönen jahreszeitliche Lieder, Sprüche zur Sprachförderung werden rezitiert, Spiele zur Förderung der Koordination und der Sozialgestalt der Klasse gespielt. Das Geheimnis liegt hierbei in der abwechslungsreichen Wiederholung. Die Kinder freuen sich an den kleinen Veränderungen, die jeder neue Schultag bringt und entwickeln dadurch Aufmerksamkeit für die Inhalte, füreinander und für den Lehrer. Diese Phase des Unterrichtes kann wohl verglichen werden mit dem Einstimmen eines Orchesters.

Noch immer sitzt die Klasse im Kreis, begegnet den Inhalten des Vortages und vollzieht nun den dritten Lernschritt, bevor der Lehrer mit der Klasse die neuen Inhalte vorbereitet: Beim Formenzeichnen werden diese mit der ganzen Gestalt ergriffen, in den Rechenepochen wird auf vielfältige Weise gezählt und kopfgerechnet und in den Schreibepochen üben die Kinder auf jede erdenkliche Art die Verknüpfung von Zeichen und Lauten, von geschriebenem und gesprochenem Wort. Im Kreis spricht jeder stets zu allen und nicht nur zum Lehrer – und jeder wird von jedem gehört!

Nach dieser ersten konzentrierten Arbeitsphase folgt der Umbau vom Kreis in die Reihen – ein Unterfangen, das bei guter Vorbereitung und Führung weniger als eine Minute dauert und der Klasse wieder eine Gelegenheit zum Ausatmen gibt. Die klassischen Kissen, noch mit Dinkelspelz gestopft, wurden in vielen Schulen mittlerweile, was Form und Füllung anbelangt, weiterentwickelt, sodass dadurch die Sitzhaltung der Schüler verbessert wurde. Im zweiten und dritten Schuljahr sitzen die Kinder nach dem Umbau zunächst ohne Kissen, Hefte und Mäppchen auf ihren Bänken und können ohne Ablenkung den Zeugnissprüchen ihrer Mitschüler lauschen. Erst danach erfährt die Klasse, was genau aus den Schultaschen geholt werden muss. Diese bleiben während des gesamten Schultages an ihrem Platz an der Wand. Wieder lässt man die Kinder nach hoher Konzentration für kurze Zeit los, um sie dann mit einer gut gewählten rhythmischen Übung wieder zu sich zu holen und in die Ruhe zu führen.

Die nun folgenden kostbaren Minuten von absoluter Ruhe und höchster Konzentration eignen sich bestens zum Einführen neuer Inhalte. Neue Lernschritte werden gemacht, bevor die Klasse ins Tun kommt und das Gelernte fleißig übt. Alle sehen von ihrem Platz aus ungehindert an die Tafel, da durch den für alle recht niedrigen Sitzplatz auch kein »Großer« die Sicht versperrt. So können körperlich kleine Schüler auch mal hinten, und große Schüler vorn sitzen. Auch die Lehrer haben von der Tafel aus einen ungehinderten Blick über ihre Klasse bis in die letzte Reihe und können zwischen den Bänken hindurchgehen, um die einzelnen Kinder in ihrem Tun noch unmittelbarer wahrzunehmen und zu unterstützen. Für das Schulfrühstück können die Bänke stehen bleiben oder aber wieder in den Kreis gestellt werden. Bei besonderen Anlässen lassen sie sich auch zu einer großen Festtafel stellen. Bei aller Freude an Aktivität ist jedoch darauf zu achten, ökonomisch mit Zeit und Kräften umzugehen. So kann die gewählte Form für das Frühstück auch einfach zum Beispiel die Form sein, die sich der Fachlehrer für die anschließende Stunde wünscht.

Auch in den Fachstunden können die unterschiedlichen Möglichkeiten, die das bewegliche Mobiliar bietet, fruchtbar gemacht werden.

Hier kommt ein weiterer, besonders wichtiger Aspekt des ursprünglichen »Bochumer Modells« zum Tragen: Bei aller Beweglichkeit braucht es Konstanten – ganz besonders im häufig turbulenten Leben der Kinder heute. Die mit Abstand wichtigste Konstante ist, besonders für die erste Klasse, möglichst auch länger, die Begleitung des Klassenlehrers durch den gesamten Schulvormittag. So gelingt es den Kindern viel leichter, den gewohnten Regeln zu folgen, gute Gewohnheiten zu entwickeln und tüchtige Schulkinder zu werden.

Wenn es sich einrichten lässt, tut es der Klasse wohl, die Geschichte, wofür sich der Kreis wieder besonders gut eignet, am Ende des Schultages zu hören. In der ersten Klasse dürfen sich die Kinder dazu vielleicht in den Kreis hineinsetzen, wo und wie sie sich am Ende des Schultages wohl fühlen, sich vielleicht sogar auf den Teppich legen? Manche sind nach dem für sie noch anstrengenden Vormittag dankbar für die Gelegenheit, es sich ein wenig gemütlich zu machen. Viele Kinder rücken bei dieser Gelegenheit auch ganz dicht zusammen oder an ihre Lehrer heran – andere bevorzugen mehr Abstand – alles darf sein –, solange Ruhe gehalten und der Blickkontakt zwischen Schülern und Lehrer möglich ist. Ab der zweiten Klasse haben alle die Kraft, den Erzählungen ihres Lehrers auch am Ende des Schultages aufrecht im Kreise sitzend zu lauschen.

Mit warmem Händedruck und freundlichem Blickkontakt werden die Schüler verabschiedet – sind die kleinen Hände warm, die Wangen rosig, leuchten die Augen freudig über das Erlebte und Gelernte? Dann war es ein guter Schultag!

Nach jahrelanger Erfahrung in den unteren Klassen möchten Klassenlehrer auf die Möglichkeiten, welche diese Unterrichtsform bietet, auch in der 3., 4. Klasse und selbst in der Mittelstufe nicht mehr verzichten. Daher halten mehr und mehr Klapptische und -stühle Einzug in Mittelstufenklassen, sodass die Vorteile des Kreises wie auch vieler anderer Stellformen bei Bedarf weiterhin genutzt werden können.

Das wichtigste Element am Beweglichen Klassenzimmer ist und bleibt jedoch der Lehrer: Innere Beweglichkeit und gleichzeitig innere Ruhe und Ordnung im Denken und Handeln sind die Voraussetzung dafür, »Leuchtturm« zu werden für die Kinder. An ihm können sie sich auch an stürmischen Tagen orientieren und so selbst bei »hohem Wellengang« sicher ihren Weg finden.

Zur Autorin: Iris Taggert war langjährige Klassenlehrerin in Kirchheim unter Teck und arbeitet seit 2015 als Dozentin an der Freien Hochschule Stuttgart.