Die Sechstklässler stehen um den Flügel herum und bilden eine Parabel. In deren Brennpunkt sitzt Iru Mun und vor ihm die Tasten des Flügels. Erst ein Einsingen auf den Arpeggien vom Flügel, dann ein erstes Lied. Der hymnische Charakter öffnet die Kehlen der Kinder. Es folgt der Kanon »Ich bin ein Baum« und wieder trägt die Melodie die Kinder fort und die synkopische Begleitung vom Flügel lässt manche ein wenig in den Knien federn. Iru Mun schließt die Augen, als die Kinder aus dem Musical Oliver Twist das berühmte »Food glorious Food« anstimmen. Ein merkwürdiger Gegensatz bestimmt den Musikunterricht. Es ist ein Ernst im Raum, als sei jetzt die Generalprobe vor der großen Aufführung, als gehe es um alles und gleichzeitig ist der Unterricht ohne irgendeinen Druck, ohne Ungeduld, als sei man zufällig zusammengekommen, weil man gemeinsam Spaß am Singen habe.
Der Unterricht ist kameradschaftlich und streng zugleich und vermutlich ist dieser Widerspruch möglich, weil diese Strenge nicht vom Lehrer kommt, sondern aus der Musik. Sie ist für Iru Mun etwas Heiliges, ein Gottesdienst und dieser Funke springt zu den Schülern über. Am Schluss der Stunde singen die Kinder aus dem Musical das traurige Lied »A boy for sale«. »Müder, noch müder!«, flüstert Iru Mun, bis die Armut und Kälte des Waisenhauses, das Charles Dickens beschreibt, im Musikraum zu spüren ist.
Ohne einen Kommentar entlässt er die Kinder nach der kurzen Stunde und ich versuche zu formulieren, um was es Iru Mun in der Stunde wohl gegangen ist. Ich notiere etwas pathetisch: Die Schönheit des Lebens fühlen und ausdrücken können. Die nächste Fachstunde bringt eine Überraschung. Iru Mun warnt mich vor: »Die 13. Klasse unterrichte ich im Keller, da habe ich einen Raum für mich alleine.« Tatsächlich, im Untergeschoss hat er einen Lagerraum zu einem Musikraum gemacht. Kein Fenster, dafür die tiefe Decke mit Heizungsrohren, Requisiten vom letzten Klassenspiel an der Rückwand, ein altes Schlagzeug und Kaffeebecher. In der Mitte der Flügel auf dem sich überall Noten stapeln und wieder konzentrisch darum ein paar Tische und Stühle. Ein Dutzend Schülerinnen und Schüler kommen herein und setzen sich verstreut auf die Bänke. Wieder ist Iru Mun ernst bei der Sache. Mein Blick wandert durch die etwas gammlige Kelleratmosphäre. Es geht um den Unterschied von Berliner Liedschule, wie »Der Mond ist aufgegangen«, und der Schubertschen Liedästhetik, im ersten untermalt die Musik das Gedicht, im zweiten Fall kommt durch die Feder des Komponisten etwas neues Großes hinzu. Wieder springt Iru Muns Konzentration auf die Schüler über. Er nennt es »doppelbödig«, ein Schüler ergänzt »ambivalent«.
Mun springt zu den Tasten und es erklingt dramatisch Goethes Erlkönig in der Vertonung von Schubert. Dann verteilt er die Noten aus Schuberts Winterreise, spielt und singt daraus das Lied »Ich träumte von Lieb und Liebe«. Die Schüler geben wieder, wovon die Rede ist: »Da ist jemand im Winter, der träumt sich in den Frühling.« Mit einem Mal steigt das Engagement im Kellerraum. Das Sich-woanders-Hinwünschen zündet. Und nun geschieht ein Wunder: »Hört nochmal«, sagt Iru Mun und drückt auf den CD-Player, der auch auf dem Flügel steht. Da erklingt wieder der Bariton des Wanderes, doch mit einem Mal verwandelt sich der Keller in eine Kathedrale. Zwei Schüler, die zuvor noch tuschelten, werden still, andere richten sich auf, ein Mädchen schließt die Augen. Nicht in einem schön lasierten Waldorfmusikraum, sondern in einem Rumpelkeller geschieht etwas Einmaliges, das sich als ein Schatz in die Seelen der Jugendlichen senkt. Man kann, dafür ist dieser lange Augenblick ein Beispiel, in vier Minuten mehr lernen, als in einem Monat.
Als das Lied verklingt und Iru Mun auf die Stopptaste drückt, ist der Raum voll lautloser Musik. Nicht anders als in Schuberts Lied, wo der Verliebte in eine andere Welt entrückt wird, sich für ihn der Himmel öffnet, ist auch hier für kurze Zeit etwas Größeres anwesend. Eine Schülerin flüstert »Wow!« Es ist ein heiliger Moment, der uns vereint, ein Moment, den Iru Mun keine Sekunde überdehnt. Als wäre nichts geschehen, läuft der Unterricht recht nüchtern weiter.
In der Pause unterhalten wir uns. Mun freut sich, dass ich diese Dichte auch so empfunden habe: »Solch einen Moment darfst du nicht halten wollen, über ihn kannst du auch nicht sprechen, weil er größer ist als die Sprache.« Nicht für den Augenblick, sondern für die ganze Weite der Biografie solle man unterrichten, verlangt Rudolf Steiner. Hier war es so. Diese mächtige Innerlichkeit, die den Kellerraum füllte, die mag einem Schüler vielleicht in 30 Jahren in einer ausweglosen Krise den Boden schenken.
So kurz der Nachklang dieses Momentes ist, so lange war vermutlich seine Vorbereitung, dass in den Schülerseelen die Aufmerksamkeit und Stille herrschte, um das Unhörbare der Musik zu hören.
»Ihr Lieben, ich wünsche Euch einen schönen Tag!«, damit verabschiedet Iru Mun seine Schülerinnen und Schüler. Ich schildere ihm meine Beobachtung, dass er trotz kurz gehaltener Zügel im Unterricht immer auf Augenhöhe mit den Kindern ist. »Mein Leben ist mit Familie, Lehrerseminar, meinen Konzertengagements und dem Waldorflehrersein so stressig, das geht nur, wenn ich im Denken, Fühlen und Wollen authentisch und im Gleichgewicht bin. Vor der Klasse bin ich nicht anders als am Familientisch.« Und so wirkt der 40-Jährige auch, der als Kind mit seinen Eltern aus Südkorea nach Deutschland kam: immer echt, immer ganz bei sich.
Als ich ihn verlasse, kommt mir ein Ausspruch des Dichters Friedrich Hebbel in den Sinn: »Es gibt Menschen, die sind Lieder.«