Ein Etikett aufzukleben, reicht nicht

Heinrich Greving

Der Unterricht in inklusiven Klassen kann Schüler aufs Abstellgleis schieben. Das wird an inklusiven Schulen deutlich, in denen die Klassen für die Kinder mit einer sogenannten Behinderung von denen der anderen Kinder durch einen Park voneinander getrennt sind. In diesen Klassen finden sich wenig berufsorientierende oder -vorbereitende Inhalte. In einem Forschungsprojekt der Katholischen Hochschule in Münster haben Studierende Lehrkräfte einer inklusiv ausgerichteten bzw. die Inklusion anstrebenden (Förder-)Schule befragt und festgestellt, dass diese kaum einmal wissen, auf welche Arbeitsbereiche sie ihre Schüler vorbereiten könnten. Viele dieser Lehrer glaubten nicht daran, dass die Schüler einen Arbeitsplatz übernehmen könnten. Ein solcher Unterricht führt folglich nicht in einen kommunikativen und kooperativen Raum, er belässt die Schülerinnen und Schüler in einer Situation der Exklusion. Solche Schul- und Bildungsprozesse reproduzieren soziale Ungleichheitsphänomene.

Die dadurch schon recht früh gebrochene Bildungslaufbahn zieht unterschiedliche soziale Ungleichheiten nach sich. Auch bei Geschlechtsunterschieden und herkunftsbezogenen Ungleichheiten zeigt sich, dass diese eine deutliche Auswirkung auf die Bildung haben. So wechseln z.B. weitaus weniger Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nach der Grundschulphase auf die Realschule bzw. das Gymnasium. Zudem ist bei ihnen auch die Wechselquote von der Sekundarstufe 1 in die Sekundarstufe II deutlich geringer.

Der exklusive Charakter unseres Bildungssystems zeigt sich besonders beim Übergang in die unterschiedlichen Schulformen. Das, was sich im Unterricht ereignet, bildet auch die Strukturen der Gesellschaft ab. Finden sich in einer Gesellschaft primär exklusive Handlungsmuster, spiegeln sich diese in den Schulformen. Das wird an den empirischen Erhebungen zur Durchlässigkeit der unterschiedlichen Schulen deutlich: Nur selten finden Schüler der Förder- und Hauptschulen den Weg in weiterführende Schulformen. Dieser ist für Schüler der Realschulen deutlich einfacher zu realisieren. Ähnliches kann auch von Schülern mit sogenanntem Migrationshintergrund behauptet werden: Sie wechseln seltener von der Grundschule in die Gymnasien, als Kinder ohne Migrationshintergrund. »Zum einen hängt ein großer Teil der Inklusionswirkung weniger von der formalen als vielmehr der faktischen Offenheit bzw. Durchlässigkeit des Bildungssystems ab. Diese wiederum entscheidet sich nur zu einem Teil innerhalb des Bildungssystems. Häufig sind es eher externe Voraussetzungen, die über Anreize und faktische Möglichkeiten des Bildungszugangs bestimmen«, so der Tübinger Soziologe Stefan Hillmert.

Inklusion stellt sich also »als Herausforderung schulischer Entwicklung« (Schwohl/Sturm) überhaupt dar. Daher müssen die bildungspolitischen Vorgaben zur Inklusion befragt und gegebenenfalls verändert werden (Herz). Es reicht nicht aus zu behaupten, dass Inklusion für alle Beteiligten im Schulbereich notwendig und wichtig sei, und gleichzeitig mit einem Federstrich differenzielle Maßnahmen für Menschen mit Beeinträchtigungen vom Tisch zu wischen, indem finanzielle, personelle, bauliche und konzeptionelle Maßnahmen aufgegeben und in den sogenannten Regel(schul)bereich transferiert werden – dadurch verkommt Inklusion zu einem Sparmodell bundeslandbezogener und kommunaler Bildungspolitik. Diese falsch verstandene Inklusion maskiert eine latente Behindertenfeindlichkeit oder leistet einer solchen unreflektiert Vorschub.

Homogenität – Begabung – Selektion

Folgt man dem Hamburger Erziehungswissenschaftler Helmut Richter, konstituiert sich der pädagogische Alltag durch drei Phänomene: Homogenität, Begabung und Selektion. Homogenität scheint Leistung zu fördern, Heterogenität scheint sie zu mindern, so dass Gruppen, die Menschen mit Behinderung in ihre Lernprozesse aufnehmen, als leistungsmindernd gelten – was vielfältige Probleme nach sich zieht. Die Diskussion um Homogenität ist allerdings in den letzten zwanzig Jahren selbst nicht homogen verlaufen; unterschiedliche Untersuchungen haben unterschiedliche Ergebnisse zutage gefördert. Dennoch scheint es einen Konsens zu geben, dass homogene Unterrichtsstrukturen gesellschaftspolitische und gesellschafts-soziologische Prozesse abbilden. Die Gesellschaft (wenn es denn eine solche überhaupt gibt) scheint hierbei die Schülerinnen und Schüler auf die grundlegende Orientierung nach Leistung vorzubereiten. Die ökonomischen Prozesse der Gesellschaft sind leistungsorientiert, die Schulen sollen hierauf vorbereiten – und sie realisieren dieses auch!

Auch Begabung ist nicht losgelöst von der Gesellschaft, in der sie zum Tragen kommen soll, zu bewerten. Ob und wie Begabungschancen genutzt werden, ob Begabung vielleicht sogar genetisch bedingt sei, all dies wird diskutiert. Dabei muss aber festgestellt werden, dass »die Frage nach dem anlagebedingten Woher der Begabung … immer methodologisch untrennbar mit dem kulturell bedingten Wozu der Begabung verknüpft« ist (Richter). Begabung ist relativ und wie sie gemessen wird, entscheidet über Inklusion oder Exklusion.

Ein Verzicht auf Selektion auf einer Ebene des Bildungswesens verschiebt das Problem in den nächst höheren Bereich und führt zu Eingangskontrollen beim Übergang in ein weiteres Bildungssystem: Werden Unterschiede in den unterschiedlichen Bildungsnotwendigkeiten verneint, kommt es zu einer Nichtdurchlässigkeit im Rahmen des nächsthöheren Systems.

Die Schule muss in ihrer gesamten Organisationsform und in der Art und Weise, wie Unterricht gestaltet wird, als Spiegel der Gesellschaft verstanden werden: Gibt es dort Ausschlussmechanismen, werden sie auch in der Schule zu finden sein. Reagiert die Schule allerdings mit kooperativen Bildungsbestrebungen auf die Ausschlussmechanismen der Gesellschaft, bietet sie z.B. gemeinsam mit örtlichen Industrieunternehmen Praktika an und kümmert sich um gelungene Übergänge zwischen der Schule und dem Berufsleben, organisiert sie einen für alle Schülergruppen gemeinsamen Unterricht am gemeinsamen Gegenstand (wie dies Georg Feuser schon vor Jahren vorgeschlagen hat) u.ä., kann es sein, dass heterogene Schulformen sehr wohl dazu beitragen, inklusive Mechanismen für alle Beteiligten zu realisieren – und dies gilt gerade auch für Menschen mit schwerster Behinderung. Alle Schulformen müssten sich somit darum bemühen, dass Übergänge zwischen ihnen möglich sind, so zum Beispiel zwischen Förderschule und Hauptschule, damit die Schüler einen höherwertigen Bildungsabschluss erlangen bzw. sich frühzeitig auf das Arbeitsleben vorbereiten können.

Dr. Heinrich Greving ist Professor an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster für Allgemeine und Spezielle Heilpädagogik sowie Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg

Literatur:

Stephan Hillmert: »Soziale Inklusion und Exklusion: die Rolle von Bildung«; in: Stichweh, R./Windolf, P. (Hrsg.) (2009): Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009

J. Schwohl, T. Sturm: Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung: Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses, Bielefeld 2010