Bei nächster Gelegenheit las ich dann im Kalender für das Jahr 1803 nach. Da wurde mir klar, dass er um 1800 ein eindrucksvoller Vorfahre heutiger Naturschützer war, freilich mit einer tiefen, religiös fundierten Ehrfurcht vor der Schöpfung. Hebel beschreibt genau und sachkundig die Eigenarten der Raupenwanderungen und die Schädigung der Eichbäume durch das massenhafte Auftreten der Raupen und ihre ungeheure Fresslust. Dann kommt er auf die Gefahr für den Menschen: » … doch ist das nicht das schlimmste, sondern sie können sogar dem menschlichen Körper gefährlich werden, wenn man ihnen zu nahe kommt, sie mutwillig beunruhigt, oder gar aus Unvorsichtigkeit mit einem entblößten Teil des Körpers berührt und drückt. Sie dulden es nicht ungestraft, wenn sie sich rächen können. … Die Raupen lassen augenblicklich ihre kurzen, steifen stechenden Haare gehen, und drücken und schießen sie gleichsam wie Pfeile ihrem Feind in die zarte Haut des Körpers. Dies ist das Mittel, welches die Natur auch diesen verachteten Tieren zu ihrer Verteidigung gegeben hat.«
Da bekommen diese abstoßenden Tiere plötzlich fast menschliche Züge. Ihnen wird Beunruhigung (durch Mutwillen des Menschen), Abwehr, ja Rache zugestanden, auch wenn sie für den Menschen gefährlich sind. Welch eine Hinwendung zum Kleinsten, zum Hässlichsten. Kein Wort darüber, wie man sich dieser Plage entledigen könnte.
Schön und nützlich ist die Schlange
Im gleichen Jahrgang des Hausfreundes schreibt er auch über die Schlangen. Dort räumt er zu Beginn mit dem Glauben auf, die Giftschlangen stächen mit der Zunge. Nachdem er die Funktion der Giftzähne auseinandergesetzt hat, kommt die humorvoll-lächelnde Einleitung, dann Belehrung über die Eigenarten der Schlange: »Aber wie kann man ihnen, solange sie leben, in den Mund schauen, und wer wird’s tun? Lieber geht man ihnen zur Sicherheit aus dem Wege, oder schlägt sie tot. Allein so wird doch auch manches unschädliche und sogar nützliche Tier getötet. Denn die Schlangen verzehren viel sogenanntes Ungeziefer, und helfen also uns vor der schädlichen Menge desselben bewahren.
Und ein guter und besonnener Mensch will doch lieber erhalten, als ohne Zweck und Not zerstören, lieber leben lassen als töten, war es auch nur ein Tier im Staube. Und die Schlange, ob sie gleich mit dem Bauch auf der Erde schleicht, ist doch ein merkwürdiges und wirklich ein schönes Tier. Schon das verdient ja unsere Bewunderung, dass dieses Geschöpf ohne Füße nur durch seine zahlreichen Muskeln sich so leicht fortbewegen kann. Ihre Gestalt ist so einfach, und doch fehlt ihnen nichts, was ihnen zur Erhaltung und zum Genusse ihres Lebens nötig ist. Mit welcher Geschwindigkeit und Gewandtheit gleiten sie in den mannigfaltigsten Wendungen ihres schlanken Körpers nach allen Richtungen dahin, und ereilen ihre fliehende Beute, oder retten ihr verfolgtes Leben? Mit welcher leichten Biegsamkeit wenden sie sich zwischen und über und unter den tausend Hindernissen durch, die ihrem Laufe überall im Wege liegen?«
Er schließt mit einem Satz, aus dem sein Lächeln hervorlugt: »Man kennt auch eine Schlange, die auf dem Kopfe zwei bewegliche Auswüchse wie Hörner hat, und nennt sie deswegen die gehörnte. Sie weiß sich sehr geschickt im Grase zu verbergen, so dass nur diese Auswüchse hervorschauen. Vögel, die dies sehen, halten's für Würmer, fliegen herzu, und wollen anbeißen, werden aber augenblicklich von der Schlange erhascht und gefressen. So begegnet wohl auch manchem Menschen gerade dasjenige selber, was er aus Eigennutz oder Schadenfreude einem andern zugedacht hat.«
Des Finken Spott
Im Jahrgang 1814 hat der Kalendermann eine nachdenkenswerte Betrachtung über die Kunst des Nestbaus der Finken eingerückt. Er beginnt dabei mit leichtem Spott, der auch dem modernen Biotechniker gelten könnte: »Wenn der geneigte Leser ein Finkennest in die Hand nimmt, und betrachtet’s, was denkt er dazu? Getraut er sich auch so eins zu stricken, und zwar mit dem Schnabel und mit den Füßen? Der Hausfreund glaubt’s schwerlich. Ja er will zugeben: der Mensch vermag viel. Ein geschickter Künstler mit zwanzig feinen künstlichen Instrumentlein kann nach viel misslungenen Versuchen zuletzt etwas herausbringen, das einem Finkennest gleichsieht, und alle, die es sehen, können es von einem wirklichen Nest, das der Vogel gebaut hat, nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein, und meint, jetzt sei er auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viel. Und wenn ein wahrer Fink, wie du jetzt auch einer zu sein glaubst, dazukäme, und könnte dein Machwerk durchmustern, wie der Zunftherr ein Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken, und dich mit dem rechten Auge kurios ansehen, und so er menschlich mit dir reden könnte, würde er sagen: ›Lieber Mann, das ist kein Finkennest! Ich mag’s betrachten, wie ich will, so ist’s gar kein Vogelnest. So einfältig und ungeschickt baut kein Vogel. Was gilt’s, du Pfuscher hast’s selber gemacht!‹ Das wird zu dem Künstler sagen der Fink. Ebenso ist es mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch kann kein Spinnengewebe machen.« Wir können uns getroffen fühlen. Denn was wir zustande gebracht haben, sind weitgehend Surrogate, mit denen wir uns leider allzu rasch zufrieden geben, als da sind Kunststoffe der unterschiedlichsten Art, synthetische Vitamine, Farben, Duft- und Geschmackstoffe – es sind der »Erfindungen« unzählige.
Aber Hebel bleibt nicht bei seinen spöttischen Einwendungen stehen, sondern zeigt auf das Mehr, das der Mensch gegenüber dem Tier besitzt – auch wenn er nicht immer in der richtigen Weise damit umgeht. »Gottes Werke macht niemand nach«, doch »hat er dem Menschen etwas von seinem göttlichen Verstand lassen in die Seele träufeln, dass er ebenfalls nach seiner eigenen Überlegung für mancherlei Zwecke bauen und hantieren kann, wie er selber glaubt, dass es recht sei« und er hat »dem Menschen die Gnade verliehen, dass er in allen seinen Geschäften unten anfangen, und sie durch eigenes Nachdenken, durch eigenen Fleiß und Übung bis nahe an die Vollkommenheit der göttlichen Werke selber hinbringen kann, wenn schon nie ganz. Das ist seine Ehre und sein Ruhm.«
Die Erhabenheit des Weltgebäudes
Aber da es dem Pädagogen Hebel immer darum geht, nichts isoliert, sondern das Kleinste und das Größte zusammen zu sehen, so beginnt er drei Jahre später eine über mehrere Jahrgänge sich hinziehende Beitragsserie mit dem Titel Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude. Hier geht er nun in den Kosmos hinaus. »So groß ist die Sonne, und geht aus der nämlichen allmächtigen Hand hervor, die auf der Erde das Magsamen- oder Mohnsamenkörnlein in seiner Schale bildet und zur Reife bringt, eins so unbegreiflich, wie das andere. Der Hausfreund wenigstens wüsste keine Wahl, wenn er eine Sonne, oder ein Magsamenkörnlein machen müsste mit einem fruchtbaren Keim darin.« Welch eine Demut!
Hebel ist aber auch Humorist. Und so kann die Achtung vor dem Kleinen und Verachteten durchaus bis zur Groteske führen, wie in der Anekdote Dankbarkeit. Und da entsteht dann das für ihn so charakteristische befreiende Lachen.
»In der Seeschlacht von Trafalgar, während die Kugeln sausten und die Mastbäume krachten, fand ein Matrose noch Zeit, zu kratzen, wo es ihn biss, nämlich auf dem Kopf. Auf einmal streifte er mit zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger bedächtig an einem Haare herab, und ließ ein armes Tierlein, das er zum Gefangenen gemacht hatte, auf den Boden fallen. Aber indem er sich niederbückte, um ihm den Garaus zu machen, flog eine feindliche Kanonenkugel ihm über den Rücken weg, paff, in das benachbarte Schiff. Da ergriff den Matrosen ein dankbares Gefühl, und überzeugt, dass er von dieser Kugel wäre zerschmettert worden, wenn er sich nicht nach dem Tierlein gebücket hätte, hob er es schonend von dem Boden auf, und setzte es wieder auf den Kopf. ›Weil du mir das Leben gerettet hast,‹ – sagte er, – ›aber lass dich nicht zum zweiten Mal attrapieren, denn ich kenne dich nimmer.‹«
Hebel, von Beruf Theologe, war als Schriftsteller und Redakteur ein undogmatischer humorvoller Beobachter und Erzähler, dessen Haltung gegenüber Mensch und Schöpfung so überzeugend ist, dass man auch heute als nicht religiös gebundener Zeitgenosse seine Texte mit Gewinn lesen kann – ohne sich irgendwie vereinnahmt zu fühlen.
Zum Autor: Walter Schafarschik unterrichtete von 1968 bis 2002 die Fächer Deutsch und Geschichte; z. Zt. Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart und am Eurythmeum Stuttgart