Über der Laterne leuchtet das Licht der Lampe durch die Lamellen, Schatten huschen an der Wand hinauf und verzaubern die Zimmerdecke. Die Familienkatze kann diesem Lichttanz stundenlang gebannt folgen, die Kinder warten begeistert immer wieder, dass der Engel vorbeikommt, und die Erwachsenen freuen sich am zarten Spiel der Farben, die eine wunderschöne, weihnachtliche Stimmung zaubern.
Haben Sie solch eine Laterne schon einmal gesehen? Vielleicht im Stuttgarter Raum oder am Bodensee, oder am wahrscheinlichsten in England. Sie steht in über 5000 Häusern und Einrichtungen in der ganzen Welt und ist die Erfindung des Kosmopoliten Uwe Jacquet, der in Sachsen geboren und als Kind nach dem Krieg in Richtung Westen geflohen ist. Uwes Vater war Gründungslehrer an der Dresdener Waldorfschule, und doch hat Uwe Jacquet seine Schulzeit sozusagen verpasst: Kaum war er alt genug für die erste Klasse, wurde die Schule (als letzte der Waldorfschulen) von der Nazi-Regierung geschlossen. Kurz nach der Wiedereröffnung setzten ihr die sowjetischen Besatzer ein zweites Ende.
Seine Flegeljahre verbrachte Uwe Jacquet an verschiedenen Orten und Waldorfschulen in Süddeutschland. Auch seine Geschwister fanden ihre Berufung in der Waldorfwelt: Der Name Jacquet ist vom Ruhrgebiet bis nach München gut bekannt.
Schon mit zwanzig Jahren war er, nachdem er sich mal schlecht, mal recht als Fremdenführer durchgeschlagen hatte, an der Gründung der Pariser Waldorfschule Chatou beteiligt. Hier kam ihm zum ersten Mal die Idee für die Weihnachtslaterne, inspiriert von den Thüringer Pyramidenkarussellen. Er heiratete, die ersten beiden Töchter wurden geboren und die junge Familie zog in die englische Grafschaft Sussex, wo sie über viele Jahrzehnte in Michael Hall, der ältesten und größten britischen Waldorfschule, lebten und arbeiteten. Zunächst war Jacquet als Französischlehrer berufen worden, später kam dann der Deutsch- unterricht hinzu, und schließlich begann seine laufbahnbestimmende Tätigkeit als Lehrer für Kunsthandwerk.
Als Ende der achtziger Jahre meine eigene Waldorflaufbahn begann, gab es noch viele Lehrer wie die Jacquets: der Anthroposophie zutiefst verbunden, in jedem Lebensbereich bewusst künstlerisch aktiv und ihrer Schule ergebenste, selbstlose Diener. Neben der Erziehung ihrer oft zahlreichen Kinder (die Jacquets haben vier) und dem vollen Stundenplan arbeitete diese Generation unermüdlich an der sichtbaren und verborgenen Infrastruktur ihrer Schule: Sie beschnitzte und bemalte provisorische Schulbaracken, entwarf und schreinerte Schränke und Regale, plante und begleitete den Schulneubau. Sie studierte die Weihnachtsspiele ein und versah sie mit Kostümen und Requisiten. Basare wurden organisiert, Jahresfeste gestaltet, junge Kollegen eingearbeitet, Eltern und Öffentlichkeit eingeführt, Kindergärten und Lehrerseminare gegründet.
Noch heute zehren wir alle vom Einsatz dieser Menschen, und viele Schulen wären ohne sie gar nicht erst da. Manches hat sich in den letzten drei Jahrzehnten auch durch das Infragestellen und Aufbrechen der alten Traditionen entwickelt – ihren festen Bestand, ihren guten Ruf aber verdankt die Waldorfpädagogik diesen Pionieren, die ihr Leben und ihr Schicksal untrennbar mit der Bewegung verbanden.
Uwe Jacquet begann 1963, in Michael Hall zu lehren. Alle Oberstufenschüler gingen durch seine strenge, fachlich hochkompetente Schule und nahmen Erinnerungen mit ins Leben: Kupferne Kerzenständer und Schalen, eiserne Schürhaken, ja sogar selbstgegossene Silberringe. Auch in seiner Freizeit war Jacquet stets in der Werkstatt anzutreffen, und beim jährlichen Weihnachtsbasar war sein Stand einer der schönsten und einträglichsten. Gebrauchsgegenstände aus Metall, Schmuck, Fensterbilder, Strohsterne, hölzernes Spielzeug für die Kinder – hier gab es die begehrtesten Geschenke zu kaufen. Selbstverständlich ging der Gewinn an die Schule.
Die erste Laterne war noch aus Papier, Pappe, Draht und Holz gefertigt und wurde von einer Kerze betrieben: Eine halbe Stunde erfreute sie die Familie, bevor die Kerze umfiel und das Kunstwerk in Flammen aufging. In den folgenden Jahren verbesserte sich das Design ständig. Anfangs saßen Eltern und Kinder der Familie Jacquet im Herbst am Küchentisch, wo sie mit farbigem Seidenpapier und schwarzer Pappe die schönsten Scherenschnitte mit »geschichtetem« Hintergrund bastelten, die dann zu Laternen zusammengefügt werden konnten. Selbstverständlich wurden auch diese Basteleien am Weihnachtsbasar verkauft. Auch später noch, als Glühbirnen die Kerze ersetzt hatten und das Gerüst der Laterne aus stabilem Kunststoff war, verdiente immer nur die Schule an diesen Kunstwerken.
In den achtziger Jahren schließlich wurde die Nachfrage so groß, dass Jacquet die Entscheidung traf, Einzelteile der Laternen vorfertigen zu lassen. Diese können schnell zusammengebaut werden und haben alle ästhetischen Merkmale des Originals, sind allerdings keine Unikate. Mittlerweile stehen sie in tausenden von Häusern, Wohnungen, Arztpraxen und Geschäften und gehören dort zur Vorweihnachtszeit wie Tannenzweige und Spekulatius. Auch Bausätze mit genauen Anleitungen gibt es zu kaufen, zum reduzierten Preis für Schulen, die damit etwas auf ihrem Basar verdienen wollen. Einige Dutzend Laternen kann Uwe jedes Jahr noch selber machen, mit Scherenschnitten und Seidenpapier wie früher.
Auch mir hat er diese Technik beigebracht. Als ich in Michael Hall Klassenlehrer war, kam uns daher die Idee, dass Schüler ab einem gewissen Alter die Laternen eigentlich auch selber herstellen könnten. In zweiwöchigen Epochen ist mir das mittlerweile sowohl mit einer siebten als auch mit einer achten Klasse gelungen. Inzwischen ist die »Laternenepoche« im Advent in Michael Hall Tradition in der achten Klasse. Die Schüler sind zunächst erst einmal skeptisch und trauen sich die filigrane Arbeit mit Schneidematte und Skalpell kaum zu. Nach ein paar Vorversuchen gewinnen sie jedoch Selbstvertrauen, und können am Ende kaum glauben, was für schöne Kunstwerke ihnen gelungen sind. Die eigene Phantasie kann hier gut eingesetzt werden: Eine jüdische Schülerin, der die Weihnachtsgeschichte nicht so zusagte, entwarf eine Laterne mit Motiven für Chanukka. Auch in Basel und Prien haben sich Mittelstufenschüler erfolgreich mit dem Laternenbau beschäftigt, sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Basarverkauf. Gerne nimmt Uwe Anfragen von interessierten Schulen entgegen. Auch der Gedanke an einen Nachfolger für sein schönes Handwerk beschäftigt ihn: Wer wird die Laternen bauen, wenn er das einmal nicht mehr vermag?
Inzwischen wohnen die Jacquets wieder in Paris, unweit der Waldorfschule in Verrières. Auch das gehört zum Schicksal ihrer Generation: Oft ist es uns Jüngeren nicht gelungen, unser Modernisierungsbestreben nicht wie Undankbarkeit wirken zu lassen. Schön wäre es, wenn diese verdienten Kollegen bis an ihr Lebensende im Umfeld ihrer Schule wirken und weben könnten, sozusagen als Schulgroßeltern.
Waldorflehrer wie die Jacquets, die alles, was sie beginnen, als Kunstwerk erfassen, können ihre Nachfolger zu großen Taten inspirieren. Die für ihre Generation typische Gründlichkeit, ihre Liebe zum Detail und die ständige Rücksichtnahme auf die eigentlichen Ziele der Waldorfpädagogik stehen uns, wie die Weihnachtslaterne, in leuchtend harmonischen Farben vor Augen.
Kontakt zu Uwe Jacquet: uhjacquet@gmail.com