Erziehungskunst | Sie arbeiten in der hessischen Fachkommission Landesabitur mit. Wie kommt es, dass eine Waldorflehrerin bei der Hessischen Lehrkräfteakademie arbeitet und die Themen mit verantwortet?
Gilberte Dietzel | Als Hessen 2004 das Landesabitur einrichtete, wurden Fachkommissionen gebildet, in denen alle Schularten vertreten waren. Ich kam über die Landesarbeitsgemeinschaft der hessischen Waldorfschulen zunächst als einfaches Mitglied in diese Kommission. Vor einigen Jahren wurde ein Kerncurriculum ausgearbeitet und ich gehörte zu den Dreien, die dieses Curriculum für die Gymnasialoberstufe für das Fach Französisch gestaltet haben. Jetzt habe ich die Federführung inne – vorgeschlagen von der Lehrkräfteakademie. Als ich zunächst ablehnte: »Ich gehöre nicht zum Stall, ich bin bei Ihnen ein Paradiesvogel«, kam die Antwort: »Danach gehen wir nicht, wir schauen, was Sie mitbringen.«
EK | Rudolf Steiner sagt, dass der Unterrichtsstoff eigentlich nur dazu diene, dass wir dem Kind die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Im Vordergrund steht nicht die Wissensvermittlung, sondern die Persönlichkeitsentwicklung. Gilt das auch für den Französischunterricht in der Oberstufe?
GD | Tatsächlich – das Erlernen der französischen Sprache ist ein Nebeneffekt. Ein Nebeneffekt des intensiven Umgangs mit Inhalten, mit Texten. Ein Beispiel: Wenn ich den Schülern Texte vorlege, die aus einem Schulbuch kommen, fehlen die emotionale Verbindung und der künstlerische Umgang mit der Literatur, weil solche Schulbuchtexte gezielt darauf abzwecken, dass man die Sprache lernt. Wenn ich die Texte extra für den Unterricht zusammengestellt, vielleicht sogar selbst geschrieben habe, ist das etwas völlig anderes. Es gibt von Steiner die Angabe, dass man über das Mündliche an Texte herangehen sollte, also zunächst über das Erzählen. Die Schüler verstehen das Erzählte intuitiv, ihnen wird schnell klar, dass eine mündliche Herangehensweise das Textverständnis erleichtert. Irgendwann, in der Oberstufe sind sie so weit, dass sie authentische Texte direkt lesen können. Die Literatur ist der Stoff, der diese Innerlichkeit vermittelt, an dem sich die Schüler entfalten können. Meine Schüler merken sofort, ob sie ein Text bereichert oder nicht. Sie sagen: »Mein Gott, ist das langweilig! Müssen wir das lesen?«
Sie lesen die Nibelungen oder Parzival im Deutschunterricht und vertiefen sich in die jeweiligen Bilder dieser Lektüre. Wenn sie dann im Französischunterricht Standardlektüren bekämen, verlöre die Sprache sofort an Bedeutung.
EK | Wie kommen Sie zu Ihrer Textauswahl?
GD | Ich schaue zuerst, welchen Entwicklungsstand meine Schüler haben, was sie brauchen, und suche in der Literatur nach Texten, die solche Motive behandeln, die ihnen Antworten geben können auf das, was sie innerlich umtreibt. Es ist ganz wichtig, dass das nicht direkt angesprochen wird – nur wenn sie es suchen. Als Erwachsene kann ich nicht Antworten auf Fragen geben, die gar nicht gestellt worden sind. In der Literatur werden zum Beispiel musterhaft Konflikte dargestellt und Antworten auf diese Konflikte gegeben. Das hat man im Theater, im Roman, in Novellen. Der Schüler erlebt an der Literatur: Jemand anderes hat ähnliche Probleme gehabt und hat es auch geschafft. Der künstlerische Atem muss darin liegen, sonst spricht der Text nicht zur Seele. Le Petit Prince ist eine Anleitung dafür: Was ist Liebe? Wenn wir daran arbeiten, wenn der Fuchs sagt: »Ja, wenn du weg sein wirst, wird das Weizenfeld mich an dich erinnern, und das ist schon mein Geschenk.« Diese Texte haben urmenschliche Motive, die für die Schüler wertvoll sind.
EK | Wie kommen die Schüler zum eigenständigen Arbeiten?
GD | Ich gebe überhaupt keine Arbeitsblätter mehr, sondern lasse immer selber schreiben, was viel schwieriger und anspruchsvoller ist. Ich fordere, was man auf Deutsch »Kreativaufgaben« nennt, das heißt, die Schüler schreiben kleine Szenarien, die sie selber erfinden, die so nicht in den Texten vorkommen. Mit dieser Art Aufgaben bringe ich die Schüler zum Arbeiten, weil sie dann selbst – praktisch auf der Ebene des Autors – tätig werden.
EK | Was raten Sie jungen Kollegen, die mit ihrer Arbeit an einer Waldorfschule beginnen?
GD | Sie sollen als allererstes unterrichten wollen. Junge Kollegen neigen oft dazu, mit den Schülern einen freundschaftlichen Kontakt zu suchen. Die Schüler wollen das absolut nicht! Jeder Lehrer muss von seinem Lehrersein überzeugt sein. Oft sind junge Kollegen etwas unsicher und unterrichten so, als müssten sie sich dafür entschuldigen. Das geht nicht! Die Schüler wollen, dass der Lehrer weiß, wo es lang geht. Nicht autoritär, sondern mit der Gewissheit in sich ruhend: Ich will, dass ihr das lernt.
Ein Problem bei vielen jungen Kollegen ist: Sie können ihr eigenes Tun noch nicht reflektieren. Deshalb haben wir im Frankfurter berufsbegleitenden Seminar die reflexive Portfolio-Arbeit eingeführt, damit die Seminaristen ihrer eigenen Lernspur nachspüren und mit anderen darüber ins Gespräch kommen können.
EK | Wie sind Sie selbst Lehrerin geworden?
GD | Der Wunsch, Lehrerin zu werden, war schon immer da. Ich habe als kleines Mädchen meine Puppen hingesetzt und ihnen Aufgaben gegeben. Ich komme aus einem Arbeitermilieu in Lyon. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich all das geboten bekam, was Töchter aus besseren Häusern auch bekamen. Sie hat dafür gesorgt, dass ich Geige gelernt habe, was in Frankreich damals nicht üblich war. Ich war im Chor, bin Ski gefahren. Dann habe ich Deutsch studiert.
Während des Studiums habe ich ein Jahr in Deutschland verbracht. Als ich mit meinem Mann nach Frankfurt kam, habe ich eine Lehrerstelle gesucht und konnte bei den Ursulinen eine Schwangerschaftsvertretung beginnen. Zum Glück suchte die Waldorfschule in Frankfurt eine Französischlehrerin. Ich wusste überhaupt nicht, was das für eine Schule war. So habe ich mir zwei Bücher aus der Bibliothek geholt, um nachzulesen. Ich fand es richtig spannend, diese bunten Bücher. Ich dachte: Das ist schön! Und so war es dann auch an der Schule – ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schule kann auch so sein!
Ich habe dann im August begonnen und gleichzeitig das berufsbegleitende Seminar, das damals gerade so zwei, drei Jahre alt war, mitgemacht. Was für mich interessant war: Ich habe Eigenheiten meiner deutschen Mutter erkannt, die mich in Frankreich zur Andersartigen gemacht haben, weil meine Mutter strenge Vorstellungen davon hatte, wie man mit dem Leben umgeht. Durch die Bücher Rudolf Steiners hat sich manches in dieser Hinsicht geklärt.
EK | Wie war es für Sie, Texte Rudolf Steiners zu lesen?
GD | Vieles bekam dadurch einen Sinn. Allerdings hat mich Steiners Sprache zunächst gestört. Später erkannte ich, wie mich wiederum die Sprache Steiners geschult hat. Wir mussten während des Studiums Heidegger lesen. Ich habe damals nichts verstanden.
Dann, vor ein paar Jahren, musste ich ihn erneut lesen wegen einer mündlichen Abiturprüfung. Und auf einmal verstand ich alles. Das Lesen von Steinertexten hat mir Heideggers Sprache näher gebracht. Ich will nicht sagen, dass ich dadurch zur Philosophin geworden bin, aber der Umgang mit Steiner hat mir eine Welt eröffnet, und ich hatte es nicht bemerkt.
EK | Verwenden Sie keine vereinfachte Lektüre?
GD | Doch – wir lesen zum Beispiel Évelyne Brisou-Pellens Un si terrible secret – ziemlich stark vereinfacht, die menschlichen Motive sind aber erhalten geblieben. Es geht darin um die großen Gefühle: Hass, Liebe, Eifersucht, um das, was junge Menschen bewegt. Man kann auch in einer 8. Klasse Les Misérables in einer vereinfachten Fassung lesen. Wichtig ist, dass die darin geschilderten Probleme über das Literarische angegangen werden.
EK | Worum geht es also beim Sprachenlernen?
GD | Als ich so um die 40 war, hatte ich das Gefühl, ich bin innerlich ausgetrocknet. Warum soll ich Französisch beibringen? Warum sollen die Schüler Französisch lernen? Ich sprach mit einer älteren Kollegin, die mir sagte: »Das, was du tust, ist nicht das Sprache-Beibringen, das ist nicht das, worum es geht. Es geht darum, wie du bist. Damit gibst du den Schülern etwas!« Das hat mich versöhnt, da wusste ich: Gut, ich kann weitermachen. Vor Kurzem kam eine junge Kollegin, die mir sagte: »Ich glaube, ich werde aussteigen.« – »Wieso?« – »Ich weiß nicht, was ich den Schülern geben soll.« Genau dieselbe Frage! Ich gab ihr genau dieselbe Antwort. In der Konferenzarbeit fragten wir uns in Bezug auf alle Klassenstufen: Was bringt jedes Fach dem Schüler? Mir wurde nochmals klarer: Jedes Fach ist nur ein Steinchen im ganzen Gebäude.
Es gab eine Zeit, in der viele junge Kollegen die Schule verlassen haben und zum Staat gegangen sind, weil die Bezahlung besser ist. Ich fragte mich: »Warum drängt es mich nicht, auch dahin zu gehen? Soll ich mich auch mal bewerben?« Mein Mann fragte zurück: »Willst du deine Seele verkaufen?«
EK | Ist der Beruf Waldorflehrer also eher eine Berufung?
GD | Zurückblickend auf mein Leben: Es waren die menschlichen Begegnungen. Meine Mutter hatte mir immer gesagt: »Später wirst du Französischlehrerin in Deutschland.« Ich sagte damals: »Nein, ich will Deutsch unterrichten und bleibe hier in Frankreich.« Und ich bin Französischlehrerin in Deutschland geworden! …
Es ist kein Zufall, dass ich an die Frankfurter Schule gekommen bin. Ich habe mich bei allen Schulen in Frankfurt beworben. Warum antwortet diese Schule und sagt zu? Es ist eine Schicksalsgeschichte, darin waltet etwas.
EK | Wie sehen Sie die Zukunft der Waldorfschulen?
GD | Es gibt viele großartige Menschen und sich wandelnde Strukturen. Wir befinden uns in einer Übergangszeit, momentan ist es an den Schulen nicht immer ganz einfach. Alte Strukturen brechen weg oder müssen wegbrechen. Man weiß nicht genau, was stattdessen kommen kann oder kommen muss. Es gibt einen Generationswechsel. Meine Generation hat einiges verändert, aber trotzdem standen wir noch in der Tradition. Wie werden die jungen Lehrer das Feld ergreifen? Einige wollen Neues gestalten, aber ihr Weg ist noch nicht klar. Auch bei den Fortbildungen erlebe ich tiefgreifende Fragen an den Unterricht, an die Schule, an Werte insgesamt. Eine Frage, die wir beantworten müssen, lautet zum Beispiel: Was ist eigentlich der Stellenwert der Menschenkunde im Französischunterricht? Wo finden wir diese Gedanken wieder? – Wir müssen noch viel mehr lernen, von den Kindern aus in die Zukunft zu denken. ‹›
Die Fragen stellte Ariane Eichenberg.