Seit 35 Jahren gibt es die »One Child Policy«, die 1979 zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums eingeführt und erst im November 2013 aufgeweicht worden ist. Die Folge dieser Politik, die in den großen Städten konsequent durchgesetzt wurde und zu vielen amtlich verordneten Abtreibungen und immensem damit einhergehendem Leid geführt hat, ist ein erstaunliches Verhältnis zu dem einen Kind, das die Behörden erlaubten. Bis heute zeigen sich ihre Wirkungen im Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen, das vom Leid mangelnden Umgangs mit Gleichaltrigen, entbehrter Kinderfreundschaften und fehlender Anregungen durch gleichaltrige Jugendliche geprägt ist.
Mit Drill und Fahnenappell auf die Universität
Die meisten Menschen, die heute zur Mittelschicht gehören, sind selbst nach Ende der Kulturrevolution geboren, als Einzelkinder aufgewachsen und in der chinesischen Schule ausgebildet worden. Ihnen ist das System dieser Schule genauso eingeprägt, wie die Vereinsamung in der Ein-Kind-Familie und die neue Freiheit durch die wirtschaftliche Öffnung des Landes. Die chinesische Schule ist ein kognitives System, das durch Auswendig-Lernen internalisiert werden muss. Bis heute wird daran festgehalten, dass Bildung den sozialistischen Grundsätzen nicht widersprechen darf. Zwar schneiden chinesische Schüler bei internationalen Tests – besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern – sehr gut ab, doch sind die Prägungen durch Konkurrenzdruck, Drill, umfangreiche Leistungsüberprüfung und Fahnenappell nicht zu übersehen. Die meist nicht erwähnte Kehrseite der Medaille besteht darin, dass sie in puncto Phantasie auf dem letzten und bei Kreativität auf dem fünftletzten Platz landen. Wer die Eingangsprüfung für die Universität (Gaokao) bestehen will, muss große Stoffmengen auswendig lernen und über viele Jahre fast alle Stunden des Tages und viele Stunden der Nacht (im letzten Schuljahr mit einem freien Tag alle zwei Wochen) zum Lernen einsetzen. Diese Prüfung hat allerdings einen so großen gesellschaftlichen Stellenwert, dass die Straßen an den Schulen gesperrt werden, damit während der Prüfungen ja kein Lärm die Konzentration der Schüler stört. Die egalisierenden Wirkungen sind nicht zu übersehen.
Die Wiederentdeckung von Phantasie und Kreativität
Zhong Dao Ran, heute ein 23-jähriger Student der Wirtschaftswissenschaften, schrieb vor zwei Jahren in seinem Buch »Das verzeihe ich euch nie!« über das chinesische Schulwesen: »Nicht die Schüler sind krank in China, sondern unsere Gesellschaft und unser Erziehungssystem. 12 Jahre lang zwängen sie uns durch Grund- und Mittelschulen nur für das Ziel, die Gaokao zu bestehen. Wer es schafft, wird vier Jahr lang in der verschulten Universität weiterformatiert … In der Grundschule rauben sie uns die eigenen Wertvorstellungen, in der Mittelstufe das selbstständige Denken und in der Universität unsere Ideale und Träume. Danach sieht es in unserem Hirn so leer aus wie in der Unterhose eines Eunuchen.« Zhong Dao Ran hat das heutige und das klassische chinesische Schulsystem gründlich studiert, und plädiert für eine radikale Reform. Sein Buch, das die Sicht einer ganzen Generation – der Jiulinghou, der sogenannten Generation 2.0 – zum Ausdruck bringt, wurde sechs Wochen nach Erscheinen aus den Läden verbannt.
Diese Erlebnisse, die sehr viele junge Chinesen teilen, führen dazu, dass die Fragen nach einer Bildungs-Alternative immer brennender werden. Selbst im etablierten System beginnt man – nicht zuletzt auf Druck der großen Wirtschaftsbetriebe – die Bedeutung von Phantasie und Kreativität zu entdecken. Das hat unter anderem zur Begründung des »New Education Movement« geführt, in dem etwa 1.200 Schulen zusammenarbeiten, die in irgendeiner Form mehr kreative Entfaltungsmöglichkeiten anbieten wollen (angesichts der Gesamtzahl der Schulen in diesem bevölkerungsstärksten Land der Erde eine äußerst kleine Zahl). Mit diesem Verbund arbeiten die Waldorfschulen eng zusammen.
Neben dem Gesetz
Das Schulwesen in China beruht im wesentlichen auf fünf Gesetzen, die von den Schulen selbstverständlich eingehalten werden müssen. Nun existiert aber in China eine Lebenswirklichkeit »neben« den Gesetzen. Was einmal mit Menschen abgestimmt ist, die im System eine Rolle spielen, kann Geltung erlangen. Das konnte man bedrückend feststellen, als während des großen Erdbebens in Sichuan Schulbauten einfach eingestürzt sind, da sie mit viel zu wenig Stahl gebaut worden waren. Was in China möglich ist, kann aber auch am nächsten Tag unmöglich werden. Insofern muss man ständig an der Kommunikation arbeiten und sich einen Ruf erwerben, der die dauerhafte Existenz sichern hilft.
In dieser gesellschaftlichen Aufbruchssituation suchen viele junge, gut ausgebildete Eltern, die eine enge und tiefe Bindung zu ihrem Land haben und etwas für es tun wollen, für ihre Kinder eine Bildung, mit der sie – ohne sich dem beschriebenen Stress auszusetzen – ihre vielfältigen Möglichkeiten entfalten können. Diese Eltern entdecken die Bedeutung des Spielens für kleine Kinder, sie entdecken die Chancen einer aus der Freude am Lernen gestalteten Schule und setzen sehr viel dafür ein. Sie brauchen großen Mut, um sich außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu bewegen, und erheblichen Einsatz, um die neu gegründeten Waldorfkindergärten und -schulen zu betreiben. Es kommen viele neue Probleme auf sie zu, die mit der selbstverwalteten Struktur zusammenhängen, und sie sind sehr begeistert, wenn sie sehen, dass Lernen auch ganz anders möglich ist. Und aus der Begeisterung wachsen neue Kräfte.
Zur Autorin: Nana Göbel ist geschäftsführender Vorstand der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiner e. V.«