Ein Stolperstein für das Ehepaar Cohn

Olivia Girard

Am Anfang des achten Schuljahres habe ich vier Schülerinnen gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, ein Stolperstein-Projekt mit der gesamten Klasse durchzuführen. Die vier Schülerinnen sollten die Anfänge der Recherche übernehmen, da diese mit der ganzen Klasse in den Archiven nicht praktikabel gewesen wäre. Die Klasse wurde immer über alle Schritte informiert und zu einem späteren Zeitpunkt mit einbezogen. »Wir alle kannten die kleinen goldenen Steine in den Straßen Berlins, doch so richtiges Interesse weckten sie bislang nicht in uns«, sagte eine der Schülerinnen, die die Recherche angeleitet hat.

Um einen Stolperstein verlegen zu können, benötigt man Informationen über die ausgewählte Person. Die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin und das Stolpersteinprojekt für Friedrichshain-Kreuzberg schickten uns Informationen und eine Auflistung aller jüdischen Menschen zu, die damals in der Ritterstraße wohnten, wo unsere Schule liegt, außerdem eine Liste von Berliner Ämtern, an die wir uns wegen der Akteneinsicht wenden könnten. Wir suchten uns fünf Namen von Einwohnern in der Nähe der Schule heraus. Wo heute unser Schulgrundstück liegt, haben wir keinen Namen gefunden.

Recherchearbeit

Eine Schwierigkeit war, dass wir nicht wussten, ob sich die Hausnummern nach dem Krieg verändert hatten. Und tatsächlich fanden wir über eine Internetseite für historische Landkarten heraus, dass die von uns gewählten Adressen oft eine Ecke weiter lagen. Diese Namen schickten wir an das Entschädigungsamt, an das Landesarchiv und an das Brandenburgische Landeshauptarchiv und bekamen vom ersten auch eine schnelle Rückmeldung, dass sie Akten zu allen Namen außer einem besaßen, die wir uns anschauen dürften.

Wir gingen zu fünft ins Entschädigungsamt und durften die Akten einsehen. Was uns wichtig erschien, konnten wir einscannen, doch das Meiste gab uns wenig Auskunft über die Personen. Zu Leo und Hedwig Cohn (geb. Singer) gab es eine besonders dicke Akte. So entschieden wir uns, unseren Stolperstein für dieses Ehepaar zu verlegen. Allerdings enthielten die Akten zu wenig Angaben für eine kurze Biografie. Also warteten wir auf die Antwort des Landesarchivs. Da Heinz Cohn, der Sohn des Ehepaars, zehn Jahre nach dem Krieg – wie viele Nachfahren und Über­lebende – eine Entschädigung in Deutschland beantragt hatte, gab es dort Dokumente.

Unter den drei Millionen Adresskärtchen, die im Landesarchiv aufbewahrt werden, fanden wir eines, das besagte, dass Franz Emanuel Cohn, ein weiterer Sohn von Leo und Hedwig schon mit 17 Jahren im Virchow Krankenhaus in Berlin-Wedding verstorben war. Wir suchten nach seiner Sterbeurkunde.

Auch erfuhren wir, dass Heinz Cohn einen vierjährigen Sohn namens Wolfgang Immanuel hatte, als er mit seiner Frau Käthe Else Cohn in die USA auswanderte. Wir wandten uns an den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee und dieser bestätigte uns, dass Franz Cohn dort begraben liegt und dass er an einer Mittelohrentzündung verstorben war. Im Internet suchten wir nach den Namen, die wir

hatten, und fanden tatsächlich einen Nachruf der Washington Post auf Wolfgang Immanuel Cohn, der seinen Namen in Warren Immanuel Cohn geändert hatte. Diesem Nachruf konnten wir entnehmen, dass er mit Rivca Sara Cohn (geb. Goschen) zwei Kinder hatte: Philip M. Cohn und Rachel D. Cohn. Wir fanden eine gewisse Rachel Cohn, diese schrieben wir natürlich an, doch leider war sie nicht die Gesuchte.

Inzwischen weitete sich das Ganze zu einem Klassenprojekt aus. Die Klasse teilte sich in Arbeitsgruppen auf, die sich mit verschiedenen Aufgaben befassten: der Geschichte der Familie Cohn, Fragen für ein Interview mit den Urenkeln Rachel und Philip Cohn sowie das Abhören des Interviews für biografische Hinweise. Eine Gruppe dokumentierte alle Befunde und Schritte der Recherche in einem Protokoll. Zwei weitere Gruppen befassten sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Judentum, einige Schülerinnen und Schüler übernahmen die Übersetzung ins Englische.

So entstand eine kurze Biografie aus den zusammengetragenen Informationen und eine Dokumentation über den Arbeitsprozess.

Gespräch über Zeit und Raum hinweg

Zur gleichen Zeit fanden wir über Facebook die richtige Rachel Cohn, eine Ärztin in den USA und ihren Bruder Philip Cohn, einen Elektroingenieur, der in Israel lebt. Bei einem so verbreiteten Familiennamen wie Cohn war es ein Glück, dass wir die richtigen Nachfahren finden konnten – und dass es welche gab, die noch lebten!

Es war ein aufregender Moment, als wir vor Weihnachten eine E-Mail von Rachel Cohn bekamen. Sie lebt in den USA mit ihrem Mann und drei kleinen Söhnen. Ein Teil der Klasse bereitete ein Interview vor, das wir mit Rachel und dann mit Philip über Skype führten. Kaum konnte man dabei merken, dass die USA oder Israel so weit weg sind! Rachel und Philip wurden Teil unseres Schulalltags und uns vertraute Personen. Dabei haben sich die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit der Vergangenheit, sondern mit existenziellen Fragen des Menschseins auseinandergesetzt: Wie kann man unter unmenschlichen und unfassbaren Umständen Mensch bleiben?

Vergangenheit wird gegenwärtig

Zur Verlegung des Stolpersteins ist Philip Cohn zum ersten Mal in seinem Leben aus Israel nach Berlin gereist. Zum Abschluss des Projekts besuchten wir gemeinsam mit ihm das Grab von Franz Cohn im Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee und entdeckten weitere Gräber von Familienangehörigen.

Die Schulgemeinschaft versammelte sich am Ort der Verlegung am 16. Mai 2018, vor der heutigen Hausnummer Ritterstraße 55A, damals Ritterstraße 56. Still bildete sich ein Kreis von Menschen, während die Stelle am Gehweg zunächst ausgegraben wurde, um die beiden Steine zu platzieren. Mit Beton, Wasser und Sand wurden die Steine befestigt und anschließend poliert. Die Schülerinnen und Schüler der 8b legten andächtig nach und nach weiße Rosen im Kreis um die Steine herum. Philip Cohn sprach ein Gebet auf Englisch und Hebräisch, eine Schülerin spielte ein jüdisches Lied auf dem Cello.

Im Schulhaus folgte eine feierliche Zeremonie und Gedenkfeier. Mit Ansprachen, Gedichten und kurzen Lebensbildern erinnerten wir an die Biografie von Leo und Hedwig Cohn. Auch Philip Cohn, der Urenkel, sprach einige Worte.

Leo Cohn wurde am 26. Januar 1875 in Berlin geboren. Dort wuchs er auf und ging zur Schule. Danach arbeitete er als Rechnungsführergehilfe in einer Maschinen- und Bronzewarenfabrik. Kurz darauf gründete er seine eigene Exportagenturgesellschaft und heiratete die am 18. Oktober 1876 in Berlin geborene Hedwig Singer.

Das Ehepaar Cohn führte ein gutes, relativ wohlhabendes Leben, als sie 1906 ihr erstes Kind, Heinz Cohn, bekam. Sie wohnten in einer 5-Zimmer-Wohnung, hatten ein Dienstmädchen und machten regelmäßig Familienurlaube. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ging es der Familie wirtschaftlich immer schlechter. Die sich stetig verschärfenden antijüdischen Gesetze schränkten das private, ökonomische und kulturelle Leben der jüdischen Menschen immer mehr ein und Leo Cohn sah sich gezwungen, mit seiner Familie in eine kleinere Wohnung in die Ritterstraße, Herzstück eines lauten Geschäftsviertels in Kreuzberg, umzuziehen. Ihr Sohn Heinz Cohn wohnte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu Hause.

Alle Juden mussten nach und nach alle ihre Wertgegenstände wie Radios oder Pelzmäntel an die Machthaber abgegeben. Heinz Cohn verlor seine Arbeitsstelle, trotzdem schaffte er es, einen Job als Assistent der Reichsvertretung zu bekommen. Er heiratete Käthe Else Isaack, 1937 bekamen sie einen Sohn, Wolfgang (später Warren) Immanuel Cohn. Lange schon hatten Heinz und Käthe geplant, Deutschland zu verlassen; im Herbst 1941 gelang ihnen die Flucht über Portugal nach New Jersey. Zwei Monate später wurde in Deutschland das Ausreiseverbot für Juden verhängt.

Leo und Hedwig Cohn wurden einige Monate später deportiert. In der Transportliste Seite 45 stand, dass sie am 13. Januar 1942 über Grünewald in einem Zug mit insgesamt 1.034 Menschen nach Riga transportiert wurden. Der Zug erreichte Riga drei Tage später, doch Leo und Hedwig Cohn kamen nie an. Die Vermutung ist, dass sie dasselbe Schicksal erlitten haben, wie so viele Menschen, die auf dem Weg nach Riga waren: dass sie auf freiem Feld in einer Massenerschießung hingerichtet wurden.

Leo und Hedwig Cohn sind nie wieder in ihr Zuhause zurückgekehrt. Die Stolpersteine, die verlegt wurden, können für das Ehepaar ein Nach-Hause-Kommen bedeuten.

Die Klasse freute sich, sich an einem europaweiten Projekt beteiligt und dazu beizutragen zu haben, dass auch in unserer Schule die Vergangenheit aufgearbeitet wird und sei es in Form eines kleinen Gedenkens an zwei Menschen, die hier gelebt haben und die wir in uns weiter leben lassen.

Zur Autorin: Olivia Girard unterrichtet heute an der Freien Waldorfschule am Prenzlauer Berg/Berlin.

Hedwig Cohn: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/8571

Leo Cohn: https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/8567